
Also, Akzelerationismus, was hat es damit auf sich? Viele Leute reden darüber, und viele von ihnen stehen dem Ganzen sehr kritisch gegenüber. Als jemand, der eine nicht unbedeutende Rolle bei der Entwicklung dessen gespielt hat, was zunehmend als „links-akzelerationistisches“ Denken bezeichnet wird (ich habe den zweiten Akzelerationismus-Workshop an der Uni Goldsmiths organisiert, das Akzelerationistische Manifest in die Twittersphäre gesetzt und hatte eine kleine Rolle im neueren #Accelerate-Reader), möchte ich mich dazu äußern, was Akzelerationismus ist und – was vielleicht noch wichtiger ist – was Akzelerationismus nicht ist. Darüber hinaus werde ich die Gelegenheit nutzen, die sich durch Malcom Harris‘ Rezension des Readers in The New Inquiry bietet, da sie paradigmatisch für gewisse zentrale Missverständnisse ist.
Bevor ich mich dieser Aufgabe widme, möchte ich einen bestimmten Einwand schon direkt im Vorfeld abwehren. Ja, die „Aber ihr habt mich bloß nicht richt verstanden!“-Reaktion ist oft die letzte Zuflucht der Schurken vor ihren Kritikern. Von Kritikern sollte man nicht erwarten, dass sie die feinen Details der Position, die sie kritisieren, ebenso gut verstehen wie diejenigen, die diese Position auch vertreten, auch wenn ein besseres Verständnis dieser Details in gewissem Sinne natürlich immer wünschenswert wäre. Dennoch gibt es Momente, in denen diese Reaktion gerechtfertigt ist. Zuweilen greifen Menschen, ob zum Guten oder zum Schlechten, absichtlich oder versehentlich, Strohmann-Versionen ihrer Gegner an, und das führt dazu, dass alle das Nachsehen haben, weil unsere Meinungsverschiedenheiten so viel unproduktiver sind. Ich erwarte nicht, dass meine Erläuterungen hier irgendjemanden davon überzeugen, ein Akzelerationist zu werden, aber ich hoffe, dass sie die tatsächlichen Meinungsverschiedenheiten deutlicher machen und damit so etwas wie einen dialektischen Fortschritt im linken politischen Diskurs ermöglichen, egal wie unbedeutend dieser auch sein mag. Ich sollte was hier folgt, auch insoweit qualifizieren, dass das alles hier nur meine Meinung ist und nicht die eines vermeintlichen akzelerationistischen Hiveminds, auch wenn meine Meinung natürlich von Diskussionen mit anderen Menschen in diesem Nexus geprägt ist.
Was ist nun dieser Strohmann, den Harris vermeintlich zu verantworten hat? Nun, hierbei handelt es sich nicht um eine Fehlinterpretation für die er selber wirklich verantwortlich ist – sie tauchte schon früher in Charlie Stross‘ Blog auf (was ich für ein ehrliches Missverständnis halte), und sie erschien sogar auf der Wikipedia-Seite (die ich aufgrund meiner Nähe zu diesem Kram nicht bearbeiten möchte) – und ihr genauer Ursprung wird durch Ben Noys‘ anfängliche Verwendung des Begriffs zur Taufe und Kritik eines bestimmten Trends verkompliziert, ebenso durch seine spätere Übernahme und Aneignung durch Mark Fisher. Diese spezielle Fehlinterpretation wird jedoch zu einer zentralen Prämisse in Harris‘ Artikel und wird sich deshalb zweifellos weiter ausbreiten. Sie lässt sich sehr hilfreich anhand des folgenden Absatz zusammenfassen:
Der Kapitalismus senkt die Lebenshaltungskosten auf ein Minimum, aber nur, um das Stückchen, das für die Arbeiter abfällt, zu verkleinern, während gleichzeitig der Kuchen wächst. Durch diesen Prozess wird schließlich „deutlich“, dass die Eigentümer Schmarotzer sind, und die Enteigneten enteignen die Enteigner. Wenn all das zutrifft, dann folgt daraus logischerweise, dass wir nicht versuchen sollten, die Enteignungen zu verlangsamen, sondern dass wir vielmehr versuchen sollten, das System in Richtung seines unvermeidlichen Untergangs zu beschleunigen. Diese Dynamik ist die Prämisse der Sammlung #Accelerate, neu erschienen beim radikal merkwürdigen Verlag Urbanomic.
Wie Alex Williams schon früher festgestellt hat, ist das eine Position, die noch nie zuvor von irgendjemand vertreten wurde. Okay, qualifizieren wir das ein wenig. Es könnte sein, dass zumindest einige Leute diese Position vertreten haben, und dass einige von ihnen sich jetzt sogar selbst als „Akzelerationisten“ verstehen. Beschränken wir uns also auf die Behauptung, dass dies keine Position ist, die jemals jemand aus dem #Accelerate-Reader vertreten hat.
Nicht einmal Nick Land? Nein. Nicht einmal Nick Land. Er mag den Kapitalismus. Er will ihn beschleunigen, aber nicht, damit er unter der Last seiner eigenen Widersprüche zusammenbricht. Was ist mit Deleuze und Guattari? Nein. Ihnen zufolge „ist noch nie etwas an Widersprüchen gestorben“, und egal, welche deterritorialisierende Kraft sie zu welchem Ziel beschleunigen versuchen, es ist weder ein Widerspruch, noch der unvermeidliche Zusammenbruch. Was ist mit Srnicek und Williams? Nein. Vieles von dem, was sie tun, kann als Bruch mit D&G (und erst recht mit Land) und als Rückkehr zu einer viel marxistischeren Position angesehen werden, aber auch sie weigern sich ausdrücklich, den Übergang zwischen Kapitalismus und Postkapitalismus als dialektische Aufhebung zu sehen, die durch die Verschärfung der Widersprüche hervorgerufen wird.
Gut, was ist dann mit Marx?! Wie sehr Marx in einen substanziellen Begriff des Widerspruchs als metaphysische Triebkraft der Geschichte investiert ist, steht nach wie vor zur Debatte, und ich werde nicht in dieses hermeneutische Hornissennest stolpern. Dennoch sollte klar sein, dass Marx selbst in der stärksten historisch-deterministischen (z.B. dialektisch-materialistische) Auslegung immer noch die Schlussfolgerung ablehnen würde, dass die zunehmende Offensichtlichkeit des kapitalistischen Parasitismus ganz von selbst die Enteignung der Enteigner herbeiführen würde und dass wir deshalb versuchen sollten, „das System in Richtung seines unvermeidlichen Untergangs zu beschleunigen“.
Keine dieser kanonischen Figuren, und auch sonst niemand in der Textsammlung, will den unvermeidlichen Untergang (obwohl zugegebenermaßen die Vision von Nick Land für alle außer ihn so erscheinen mag). In der Tat ist der sich entwickelnde linksakzelerationistische Strang einerseits durch die Erkenntnis motiviert, dass der Kapitalismus sich nicht einfach selbst zerstört, sobald die Maske abfällt (siehe die unglaubliche Verschärfung des Neoliberalismus nach der Finanzkrise von 2008), und andererseits durch die Erkenntnis, dass wir planen und handeln müssen, um den unvermeidlichen Untergang zu vermeiden (z.B. Umweltkrise, Wirtschaftskrise, Kulturkrise usw.). Also, um es noch einmal zu wiederholen: Beim Akzelerationismus geht es nicht darum, die Widersprüche des Kapitalismus in irgendeiner Weise zu beschleunigen. Was auch immer beschleunigt wird, – und darüber gibt es ernsthafte und bedeutende Meinungsverschiedenheiten – es sind keine Widersprüche. Und auf welchen Wandel diese Beschleunigung auch immer abzielt, es ist kein gesellschaftlicher Zusammenbruch. Alles klar? Können wir weitermachen? Gut.
Es lohnt sich jetzt zu beobachten, wie sich dieses Missverständnis in Harris‘ Rezension ausbreitet und was wir daraus lernen können. Es überschneidet sich mit einigen weiteren Prämissen, einige vernünftig, andere nicht so vernünftig, um schließlich eine Reihe von fragwürdigen Schlussfolgerungen zu produzieren. Beginnen wir mit einer ziemlich vernünftigen:
Als ein Reader, der sein Material überwiegend aus dem akademischen Betrieb des 20. Jahrhunderts nimmt, enthält #Accelerate einige der schlimmsten Beispiele für zügellosen linken akademischen Leichtsinn. Wir können die Entwicklung des anglo-französischen Akzelerationismus durch den Abschnitt „Ferment“ hindurch verfolgen, der sich zum Teil wie ein marxistisches Stille-Post auf Acid liest. Gilles Deleuze und Félix Guattaris gewagte Fusion von Marx und Freud führt uns zu Lyotard, der von der Freude spricht vom Kapital gefickt zu werden, was uns schließlich zu schließlich zu Gilles Lipovetskys tollkühner „Akzeleration der Kritik“ führt. Der Klassenkampf fällt aus diesen Ausführungen jedoch heraus, da die Autoren arrogant verkünden, dass die Häckselmaschine des Kapitals solche Klassenunterschiede abgeschafft hat.
Obwohl diese Schriftstücke bei der Erstellung einer Genealogie nützlich sind, frage ich mich, welchem Zweck sie der Akzeleration selbst dienen. Wenn wir für die technosoziale Akzeleration sind, dann können wir sicherlich unter anderem linke Professoren aus den 1970er Jahren zurücklassen, die dachten, „was wichtig ist, ist, lachen und tanzen zu können“. Sie lachten und tanzten bis in die Festanstellung und die Wohnungsbaukredite, und jetzt sind wir hier“.
Da ist viel Wahres dran. Ich habe viel zu Deleuze gearbeitet, und ich finde die stilistischen Eigenheiten seiner Arbeit mit Guattari zutiefst frustrierend, ganz zu schweigen von der Art und Weise, wie diese von späteren Autoren aufgegriffen und hyperbolisch projiziert werden, ganz gleich, wie interessant sie für sich genommen auch sein mögen. Insbesondere Lyotard, so sehr ich ihn als interessanten Leser von D&G betrachte, ist seine Ablehnung theoretischer Repräsentation zugunsten der theoretischen libidinalen Produktion völlig katastrophal. Ich habe viel mehr für den nüchternen, kantianischen Lyotard übrig, der sich später von solchen Ideen abwendet. Darüber hinaus ist es sicherlich wahr, dass diese theoretischen Trends innerhalb der akademischen Welt viel mehr Scheinradikalismus hervorgebracht haben als tatsächlichen Radikalismus außerhalb der akademischen Welt (mit Ausnahme der Liebe der IDF zu A Thousand Plateaus, wie Harris mit kaum verhaltener Freude anmerkt). Welchem Zweck dienen diese Denker also über reine Genealogie hinaus?
Nun, ich kann hier keine erschöpfende Liste ihrer theoretischen Beiträge aufstellen, aber es lohnt sich, einige davon zu erwähnen:
1. Die Behauptung von D&G, dass nichts jemals durch Widersprüche getötet wurde, ist eine wirklich prägende Einsicht. Für viele hat dies eine Wende weg von einer dialektisch-materialistischen Analyse der Widersprüche, die der funktionalen Struktur sozialer Systeme innewohnen, hin zu einer kybernetischen und komplexitätstheoretischen Analyse bewirkt, die sowohl konstitutive als auch disruptive Spannungen zwischen intra-systemischen Tendenzen auf eine viel feinere Art und Weise erklären kann, die aber gleichzeitig weniger anfällig für verbreitete Missverständnisse ist. Viele kommen aus althusserianischer Perspektive zu einer ähnlichen Position, aber der Einfluss von D&G sollte hier nicht außer Acht gelassen werden.
2. D&Gs Neubeschreibung des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus – im Sinne eines Prozesses der Deterritorialisierung gesellschaftlicher Strukturen und Normen, der einem Prozess der Reterritorialisierung weicht, bei dem diese Normen selektiv neu implementiert werden – bietet ein Vokabular für die Diskussion der Fähigkeit des Kapitalismus, feudale Beziehungen selektiv neu zu erschaffen (z.B, als immer neuere, heimtückischere Formen von Patriarchie, Oligarchie und Kolonialismus), die die Unschärfe des Diskurses realer Subsumtion vermeidet, der dazu neigt, konkrete Details in einen homogenen kapitalistischen Monolithen aufzulösen (oft ironisch mit „realer Abstraktion“ gleichgesetzt).
3. Das Bemühen von D&G und Lyotard, Marxismus und Psychoanalyse zu verbinden, hat viele Probleme (wie auch Firestones eigener Versuch), aber es problematisiert die Begriffe Begehren und Entfremdung auf wichtige Weise. Wenn nichts anderes, so können wir ihnen zumindest die Idee entnehmen, dass es keine reine, authentische oder natürliche vorkapitalistische Lebensform gibt, zu der man zurückkehren könnte (ein Punkt, an dem Firestone zurückschreckt). Sie ermutigen uns, die Lebens- und Begehrensformen, die im Kapitalismus produziert wurden, nicht einfach aufgrund dieser Tatsache ihrer Entstehung zu verleugnen. Das kann zu einer perversen Feier der destruktiven und unterdrückenden Tendenzen des Kapitalismus führen (hier bist du gemeint, Lyotard), aber es kann auch zu einem Aufruf zu einem größeren Bewusstsein darüber werden, wie wir unser Begehren und uns selbst konstruieren (hier bist du gemeint, Foucault), zu einer ehrlichen Einschätzung, die sich weigert, in dem nostalgischen falschen Bewusstsein gefangen zu sein, das in so viele linke Diskurse eindringt.
4. D&Gs Konzept des maschinischen Mehrwerts stellt eine wichtige Herausforderung für bestimmte traditionelle marxistische Ansichten dar, eine Herausforderung, die Lyotard in seiner Lesart wirklich auf den Punkt bringt. Diese Herausforderung konvergiert eigentlich mit einem Gefühl, das Harris später in seinem Stück von Evan Calder Williams aufgreift, anstatt es zu ignorieren:
Wie Evan Calder Williams schreibt, „sind die Tage und Körper der Menschen immer noch viel billiger als jede Automatisierung, vorausgesetzt, das Geld weiß, wo es zu suchen gilt. Und das hat es immer getan.“ White Supremacy und die Genderunterschiede sind keine Archaismen, die das Kapital in einen Fluss kastrierter, beiger Singularitäten pürieren wird; es sind Arbeitsverhältnisse, und zwar integrale.
Harris‘ Kritik an Lyotard und D&Gs oftmals zu optimistischer Auffassung der Fähigkeit des Kapitals, soziale Unterschiede aufzulösen, ist insofern völlig gerechtfertigt, als sich diese Unterschiede als äußerst nützlich für die Aufrechterhaltung seiner wichtigeren Dynamiken erweisen. In diesem Fall jedoch handelt es sich um eine Dynamik, die von diesen Denkern besonders hervorgehoben wird: die Idee, dass die Wirtschaft um ein regulatives Prinzip der abstrakten Arbeit (durchschnittliche notwendige Arbeitszeit) herum organisiert ist, welches funktionell von der maschinellen Produktion getrennt werden kann, wird durch die bloße Existenz von liquiden Arbeitsmärkten untergraben, durch die die abstrakte Arbeit innerhalb des Systems einen Wert im Verhältnis zur maschinellen Produktion gewinnt. Allein die Tatsache, dass es billiger ist, marginalisierte Arbeiter auszubeuten und damit die Systeme, durch die sie marginalisiert werden, zu stützen, als eine maschinelle Infrastruktur zu implementieren, die nicht auf dieser Marginalisierung beruht, treibt einen Keil zwischen unser Verständnis davon, wie moderne kapitalistische Volkswirtschaften tatsächlich funktionieren (dadurch, dass Menschen und Maschinen als austauschbare Objekte behandelt werden), und wie so etwas wie eine postkapitalistische Wirtschaft funktionieren sollte (worin Menschen und Maschinen nicht einfach austauschbar sind). Hier kann man tiefgreifende Debatten über die eröffnenden Abschnitte des Kapitals, die Wertform, die LTV und die ganze Bandbreite der marxistischen Forschung führen, aber es sollte zumindest erkennbar sein, dass es hier überhaupt etwas Interessantes zu diskutieren gibt.
Um es nochmals zu betonen: Dies ist keine erschöpfende Aufzählung der Bedeutung dieser Denker, und ich habe nicht einmal wirklich über Figuren jenseits von D&G und Lyotard gesprochen. Aber dies sollte zumindest einen Hinweis auf die Einsichten geben, die man aus ihrer manchmal frivolen Prosa gewinnen kann. Darüber hinaus sind die Fehler, die diese Denker bei der Weiterentwicklung ihrer im Entstehen begriffenen Einsichten machen, oft ebenso aufschlussreich wie die Einsichten selbst. Die Auswüchse von Lyotards zügellosem Libidinalismus sind ein ebenso gutes Argument für die Notwendigkeit der Zurückhaltung, wie die nachfolgenden Versuche von D&G, den unkontrollierten Enthusiasmus für schizophrene Deterritorialisierung einzudämmen, den sie versehentlich auslösten (ganz zu schweigen von der reductio ad absurdum, die Lipovetsky lieferte). Das gilt doppelt für die Ära der Cyber-Kultur. Die Rückkehr zu Marx‘ Prometheanismus, Modernismus und Rationalismus, der eng mit dem links-akzelerationistischen Projekt verwoben ist, ist in vielerlei Hinsicht eine Reaktion auf die Sackgassen, in die die übersteigerte Fortsetzung von D&Gs und Lyotards Denken in der Arbeit der CCRU geraten ist, auch wenn es selbst darin noch interessante Dinge zu finden gibt.
Natürlich wäre keine Ausführung über dieses Thema vollständig, ohne Nick Lands Wende zur Neoreaktion zu kritisieren, die ich bereits an anderer Stelle als „dümmer als Faschismus“ bezeichnet habe (your move internet). Es gibt eine wirkliche Kontinuität zwischen den gegenwärtigen Überzeugungen Land und seinen Arbeiten aus der CCRU-Ära. Es ist wichtig, diese Kontinuität zu erkennen und zu sezieren, gerade um die absurden Schlussfolgerungen zu vermeiden, zu denen sie Nick geführt hat (IMHO). Ich werde darauf aber nicht näher eingehen, da Alex Williams bereits eine viel bessere Kritik Lands geschrieben hat, als ich sie hier liefern kann. Ich möchte jedoch auf eine wichtige Symmetrie zwischen den links-akzelerationistischen Ansichten von Leuten wie mir und den zunehmend als „rechts-akzelerationistisch“ bezeichneten Ansichten von Leuten wie Land hinweisen.
In diesem Punkt sind wir uns einig: Die Moderne und der Kapitalismus sind nicht miteinander vereinbar. Wir sind uns nicht einig darin, welches von beidem verschwinden soll: die Linke unterstützt aktiv das Projekt der Moderne gegen den Kapitalismus, die Rechte unterstützt passiv den unvermeidlichen Sieg des Kapitalismus über die Moderne. Die Rechte denkt, dass die beschleunigende emanzipatorische Kraft nichts anderes als der Kapitalismus selbst ist, während die Linke hält, dass der Kapitalismus ein adaptives und plastisches Hindernis ist, das eine tiefere emanzipatorische Dynamik unterdrückt. Es ist im Wesentlichen eine Meinungsverschiedenheit darüber, was Freiheit ist: was es bedeutet, sie zu haben, was es bedeutet, sie zu entwickeln, und ob es überhaupt etwas gibt, das wir tun können.
Was genau soll also beschleunigt werden? Nun, wie der Unterschied zwischen linkem und rechtem Akzelerationismus zeigt, gibt es darüber eine Menge Meinungsverschiedenheiten. Es gibt keine Antwort auf diese Frage, die all den Vorläufern dieser Position, die im Reader behandelt werden (z.B. Federov, Firestone und Plant), gerecht wird, ebenso wie es keine Anort gibt, die all denen gerecht wird, die heute irgendeine Form des Akzelerationismus vertreten (z.B. Land, Negarestani und Srnicek). Der Reader ist vielmehr eine Einführung in die Debatte rund um diese Frage, die, wie er zeigen will, eine viel tiefere und interessantere Geschichte hat, als es zunächst den Anschein haben mag. Das ist das Entscheidende, was in Harris‘ Rezension fehlt:
Technosoziale Beschleunigung bedeutet Dystopie mit vielen sich überschneidenden marktwirtschaftlichen und nicht-marktwirtschaftlichen Kontrollmechanismen, die dafür sorgen, dass alles so bleibt. Das Kapital kann Mauern bauen und sie auch durchbrechen; die Kapitalisten spielen nach ihren eigenen Regeln, ihrer eigenen Geographie. Das Kapital zieht, zieht um und verfestigt Fronten zwischen den Arbeitern je nach struktureller Notwendigkeit: Es weiß, wie man einen Klassenkampf als Rassenkrieg führt und ihn Drogenkrieg nennt; es weiß, dass man Frauen schlechter bezahlen kann, wenn man sie einer Kultur des physischen, psychischen, sexuellen und emotionalen Missbrauchs unterwirft; es weiß, dass Grenzen nicht dazu da sind, um Menschen draußen zu halten, sondern um die Löhne der Menschen zu kontrollieren, die hineingelassen werden. Was genau sollte hier beschleunigt werden?
Harris spricht hier über exakt die Dynamik der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, die von D&G so ausführlich beleuchtet wurde. Er scheint allerdings zu suggerieren, dass der Akzelerationismus, wenn er sich auf die Deterritorialisierung konzentriert, der Reterritorialisierung nicht genug Aufmerksamkeit schenkt, und erst recht, dass man das eine nicht ohne das andere haben kann – warum sich also die Mühe machen, diese Entwicklung überhaupt voranzutreiben? Wenn Akzelerationisten allerdings eines von D&G gelernt haben, dann ist es die Zentralität der Deterritorialisierungs-Reterritorialisierungs-Dynamik oder die Art und Weise, wie der Kapitalismus soziale Strukturen (z.B. Klasse, Rasse, Geschlecht usw.) re-codiert, während er sie scheinbar de-codiert. In der Art und Weise, wie diese Dynamik sowohl theoretisch als auch praktisch angegangen wurde, mag es viel zu bemängeln geben, aber es eine Auseinandersetzung mit dieser Dynamik hat stattgefunden.
Der Rechtsakzelerationismus hat sich gerade deshalb der Neoreaktion angenähert, weil er die deterritorialisierende Kraft mit dem Kapitalismus selbst identifiziert: er meint, in den sauren Apfel zu beißen, und behauptet, dass wir, wenn wir die befreiende Entfremdung des Kapitalismus zulassen wollen, auch die unvermeidliche Wiederkehr der vertrauten feudalen Strukturen akzeptieren müssen, die der Kapitalismus nur flüchtig verdrängt hat. Während der klassische Faschismus den Techno-Kapitalismus als Mittel zum Zweck des Antimodernismus benutzte, benutzt die Neoreaktion den Antimodernismus als Mittel zum Zweck des Techno-Kapitalismus. Deshalb ist er meiner Meinung nach dümmer als der Faschismus – weil er die befreiende Kraft, die er anfangs der kapitalistischen Entfremdung zugeschrieben hatte, auf dem atavistischen Altar der Feudalherrschaft opfert. Dies ist die einzige Strömung des akzelerationistischen Denkens, von der man behaupten könnte, dass sie den obigen Absatz liest und darin tatsächlich etwas findet, was es sich zu beschleunigen lohnt, zumindest insofern, als sie die gewaltsame Rekonfiguration des sozialen Raums durch das Kapital als den unabwendbaren Preis techno-industrieller Entwicklung ansieht.
Der Linksakzelerationismus geht von der Prämisse aus, dass die deterritorialisierende Kraft eben nicht vom Kapitalismus selbst ausgeht, sondern dass der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus Ausdruck eines emanzipatorischen Impulses war, den die reterritorialisierende Dynamik des Kapitalismus systematisch (aber nie vollständig) unterdrückt hat. Die verschiedenen genealogischen Indizes im Reader präsentieren eine Reihe von Überlegungen über das Wesen dieses emanzipatorischen Impulses (z.B. Marx‘ Prometheanismus, Federovs Kosmismus, Veblens Maschinenprozess usw.), und die verschiedenen Originalbeiträge zeigen Möglichkeiten der Neukonzeption und Aneignung dieser Ideen (z.B. Srnicek & Williams‘ Projekt der kollektiven Selbstbeherrschung, Singletons verallgemeinerte Eskapologie, Negarestanis Inhumanismus, usw.). Gleichzeitig wird auch die Prämisse von Land’s Entgegnung am Schluss des Readers („Teleoplexie“) entschieden zurückgewiesen, nämlich dass die technisch-industrielle Beschleunigung (Veblens Maschinenprozess) untrennbar mit der finanziell-kommerziellen Beschleunigung (Veblens Wirtschaftsunternehmen) verbunden sei. Wir können Ersteres haben, ohne an Letzteres gebunden zu sein, nicht weil es sich automatisch davon befreit (naiver Technoutopismus), sondern weil es in unserer Macht steht, es zu befreien (und damit uns selbst), wenn wir bereit sind, die Möglichkeit anzuerkennen und uns entsprechend zu organisieren. Um Alex Williams zu zitieren:
Jenseits des Ökonomischen versucht der politische Akzelerationismus, die gegenwärtige politische Linke zu revolutionieren. Ausgehend von der Feststellung, dass der Kapitalismus heute die Produktivkräfte der Technologie einschränkt und sie auf enge und oft nutzlose Ziele ausrichtet, schlägt der Akzelerationismus als politisches Projekt vor, latente Produktivkräfte zu identifizieren, die gegen den Neoliberalismus entfesselt werden müssen. Statt darauf hinzuarbeiten, das gegenwärtige kapitalistische System zu zerschlagen, wird die bestehende Infrastruktur als eine Plattform identifiziert, die einer Neuausrichtung auf postkapitalistische, kollektive Ziele bedarf. So gesehen ist die Technologie kurzsichtigen kapitalistischen Zielen versklavt, während gleichzeitig die wirklichen transformativen Potentiale eines Großteils der wissenschaftlichen und technischen Forschung ungenutzt bleiben. Diese Voraussetzungen könnten entscheidend werden, aber nur soziopolitisches Handeln ist überhaupt in der Lage, sie zu aktivieren, was bedeutet, dass technologischer Wandel allein völlig unausreichend bleiben wird, um unsere Welt radikal zu verändern.
Wenn es irgendeinen Kern des linken Akzelerationismus gibt, dann ist es die Forderung einer strengen Unterscheidung zwischen einerseits dem emanzipatorischen Potenzial gesellschaftlicher und industrieller Technologien, die innerhalb des Kapitalismus entstanden sind, und andererseits ihren unterdrückerischen Potenzialen, die sich unweigerlich verwirklichen werden, wenn wir es nicht schaffen, sie zu stoppen. Wenn technosoziale Beschleunigung Dystopie bedeutet, dann liegt das allein daran, dass wir es zulassen, und wir haben die Möglichkeit, es eben nicht zu zulassen.
Das bringt uns zu der Frage, wer die „wahren“ Akzelerationisten sind:
Die wahren Akzelerationisten arbeiten nicht an Dissertationen; sie arbeiten bei Google oder McKinsey oder sie entwerfen die Massively Open Online Courses (MOOCs), die Doktoranden von der Arbeit abhalten. Es ergibt ebenso wenig Sinn, für die technosoziale Akzeleration zu sein wie dagegen.
Harris‘ Vorschlag ist, dass die „wahren“ Akzelerationisten nicht diejenigen sind, die die technosoziale Akzeleration theoretisch unterstützen, sondern diejenigen, die sie praktisch in die Tat umsetzen. Damit kann er dann implizieren, dass diejenigen, die diese Akzeleration befürworten ebenso willkürlich sein müssen, wie diejenigen, die sie tatsächlich umsetzen. Aus seiner Sicht macht es keinen Sinn, „für“ technosoziale Akzeleration zu sein, denn dies ist im Grunde genommen gleichbedeutend damit, Google, McKinsey und MOOCs anzufeuern, so als sei eine Unterscheidung zwischen positiven, negativen und umstrittenen technosozialen Entwicklungen schlicht unmöglich. Es gibt zwei Punkte, die darauf zu erwidern sind.
Erstens steckt hinter dieser Haltung eine verheerende und zutiefst unnütze Auffassung von der „Neutralität“ der Technologie. Da Technologie (sei sie nun gesellschaftlich oder industriell) sowohl in Unterdrückungssysteme integriert werden als auch die Grundlage neuartiger Emanzipationsformen bilden kann, gibt es hier natürlich eine gewisse „Neutralität“ – man kann keine technologische Entwicklung befürworten, ohne eine Reihe von Qualifikationen darüber, wie sie sich in den breiteren gesellschaftlichen Kontext einfügt. Es besteht jedoch eine wichtige erkenntnistheoretische Asymmetrie zwischen den möglichen positiven Folgen einer technologischen Entwicklung und ihren möglichen negativen Folgen: Bei den ersteren geht es vor allem darum, wie die Technologie qua Technologie den Raum des möglichen Handelns oder der abstrakt gesehenen positiven Freiheit erweitert, während es bei den letzteren vor allem darum geht, wie die Technologie qua Machtinstrument den Raum des möglichen Handelns oder der konkret gesehenen negativen Freiheit einschränkt. Will man letzteres verstehen (und kontern), muss man ersteres verstehen (und ausnutzen). Das bedeutet, dass die der Technologie innewohnende Neutralität nicht als Rechtfertigung dafür benutzt werden kann, ihr keine Aufmerksamkeit zu schenken. Sie zwingt uns vielmehr, ihr Aufmerksamkeit zu schenken, gerade insofern, als sie uns zwingt, ihre Auswirkungen auf den Raum der Freiheit zu kontern. In diesem Sinne „für“ technosoziale Beschleunigung zu sein, ist ein Bekenntnis zur nicht-trivialen Erweiterung der kollektiven Freiheit durch technologische Entwicklung, nicht ein Bekenntnis zu einem naiven technologischen Determinismus. Für mich ist das wesentlich sinnvoller, als auf der Grundlage, dass technologische Entwicklungen unterdrückerisch angeeignet werden können, „gegen“ die technosoziale Beschleunigung zu sein. Diese letztere Haltung geht als Vorsorgeprinzip zu weit.
Zweitens steckt eine ebenso verheerende und unhilfreiche Auffassung hinter dieser Denkweise der „echten Akzelerationisten“. Wer glaubt, dass die Menschen, die in diesen Branchen arbeiten, politisch naiv sind, nur weil sie in diesen Branchen arbeiten, der ignoriert eine interessante und potenziell bedeutende politische Interessensgruppe. Sicher, es gibt viele naive Techno-Utopisten, Krypto-Libertäre und angehende Neoreaktionäre, aber es gibt auch Venture-Kommunisten, Krypto-Anarchisten und angehende Links-Akzelerationisten. Einige der interessantesten und scharfsinnigsten Gespräche, die ich über ernsthafte politische und soziale Fragen geführt habe, hatte ich mit Programmierern, nicht zuletzt deshalb, weil sie kein Problem damit haben, über komplexe soziale Strukturen aus einer Design-Perspektive nachzudenken: Wie debuggen wir den Sozius? (die moderne Form der Veblen’schen Maschinenkultur). Viele der Menschen in diesen Industrien (und andere wie der immer wichtiger werdende Bereich der kommerziellen Raumfahrt – siehe Benedict Singletons Arbeit über den „real existierenden Akzelerationismus“) sind in einem wichtigen Sinne „echte Akzelerationisten“, auch wenn sie es noch nicht wissen, eben weil sie eine informierte und differenzierte Sichtweise auf die Beziehung zwischen Gesellschaft und Technologie haben. Nichtsdestotrotz können wir reinen Theoretiker eine nützliche konzeptionelle Brücke zwischen ihrem praktischen Fachwissen und der philosophischen Orientierung schlagen, der sie bereits implizit verpflichtet sind. Wir sollten uns ausdrücklich auf diese Menschen einlassen anstatt sie abzuweisen.
Also, wo ist die wirkliche Meinungsverschiedenheit zwischen mir und Harris? Ich glaube, seine kurze positive Empfehlung am Ende trifft den Kern des Unterschieds zwischen seiner Herangehensweise und der des linken Akzelerationismus:
Wenn Marx in seinen selbstsichereren Momenten Recht hatte, dann nähern wir uns dem Punkt, an dem es unerträglich wird, dass alle diese Innovationen und Effizienzen mehr Menschen schaden als helfen. Diesen Punkt werden wir nicht auf Wunsch oder durch Identifikation mit dem Prozess schneller erreichen, aber wir können uns in der Zwischenzeit darauf vorbereiten. Wir können die Versuche des Kapitals, uns zu spalten, untergraben, wenn wir uns jedes Mal, wenn das Kapital eine weitere Spaltung versucht, an die Seite der Schwächeren stellen. Vielleicht werden wir sogar richtig gut darin.
Die Empfehlung lautet also: Abwarten und den Kapitalismus sich selbst untergraben lassen. Dies ist eine überraschend weit verbreitete Meinung in der Linken. Und auch wenn es unterschiedliche Ansätze gibt, wie genau man aktiv werden soll (z.B. Widerstand gegen die Spaltung des Kapitalismus, die Schaffung der politischen Infrastruktur, die notwendig ist, um aus seinem unvermeidlichen Zusammenbruch Kapital zu schlagen, oder die Entwicklung der Fähigkeiten, diesen Zusammenbruch einfach zu überleben), so bleibt doch die allgemeine Orientierung grundsätzlich passiv (d.h. der Kapitalismus wird schon mit sich selbst fertig). Zum Teufel damit.