Warum die Linke auf Atomkraft angewiesen ist
von Lucien Groll

Kernenergie ist ein kontroverses Thema in der Linken, aber das war nicht immer so. Angesichts des Klimanotstands und geopolitischer Konflikte wie dem russischen Einmarsch in der Ukraine mit Auswirkungen auf die Energieversorgung hat die Debatte um die Kernenergie an Dynamik gewonnen. Wir glauben, dass es notwendig ist, jede Technologie, die der Kapitalismus hervorgebracht hat, so vernünftig wie möglich zu bewerten und ihr Potenzial für eine sozialistische Gesellschaft einzuschätzen – ganz im Sinne des Akzelerationistischen Manifests, in dem es heißt, dass „die Linke jeden technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt nutzen muss, den die kapitalistische Gesellschaft ermöglicht“.
Die Unzufriedenheit der Linken mit der Kernenergie hat mehrere Gründe.
Zum einen wird die Kernenergie mit der Atombombe assoziiert. Das psychologische Phänomen der Radiophobie – der Angst vor nuklearer Strahlung – trägt dazu bei, dass die berechtigten Ängste vor Atombomben auf Kernkraftwerke projiziert werden.
Zweitens gibt es das Problem der Unfälle in Kernkraftwerken. Die bekanntesten historischen Beispiele sind Three Miles Island, Tschernobyl und Fukushima. Ist die Kernenergie angesichts solcher Beispiele nicht eine zu gefährliche und unkontrollierbare Technologie?
Drittens scheint die Frage nach der Entsorgung von Atommüll so problematisch und unethisch, dass man sie nicht einmal ernsthaft in Erwägung ziehen sollte, wenn man bedenkt, welche Belastung die Abfälle für künftige Generationen darstellen. Weitere häufige Einwände gegen die Kernenergie sind die allgemeine Kritik an einem „extraktivistischen Kapitalismus“, oft in Verbindung mit der Frage der Rechte indigener Völker, und der Vorwurf, die Kernenergie sei nicht erneuerbar, sondern eine fossile Energiequelle.
Keiner dieser Gründe ist jedoch zutreffend. Es gibt sowohl Länder mit ziviler Nutzung der Kernenergie ohne Atomwaffen (z. B. Finnland), genauso wie es Länder ohne zivile Atomreaktoren, aber mit Atombomben gibt (z. B. Nordkorea). Die Kernenergie kann sogar bei der nuklearen Abrüstung dienlich sein (siehe dazu das Kraftwerk BN-800 in Russland). All dies ist eine Frage der gesellschaftlichen Organisation, nicht der Technologie selbst.
Nach den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen gehört die Kernenergie zu den sichersten Energiequellen, was die Zahl der Todesopfer im Verhältnis zur erzeugten Energie betrifft, zusammen mit Wind-, Solar- und Wasserkraft – einschließlich des berüchtigten und in der Tat schrecklichen Falls von Tschernobyl!
Das Problem der Abfallentsorgung ist aus technologischer Sicht gelöst, da es bereits funktionierende geologische Tiefenlager gibt – nicht nur für Atommüll, sondern auch für andere giftige Stoffe, die nicht einmal eine Halbwertszeit haben. Außerdem ist es in modernen Reaktoren wie dem BN-800 in Russland möglich, einen Großteil des „Abfalls“ zu recyceln. Dieser kann durch Transmutation als Kernbrennstoff verwendet werden kann. Auch ohne angemessenes Recycling kann die notwendige Lagerzeit von Atommüll mit modernen Technologien bereits drastisch verkürzt werden.
Die Vertreibung indigener Gemeinschaften für den Abbau von Rohstoffen ist ein generelles Problem des Kapitalismus mit seinen enormen Machtungleichgewichten. Eine sozialistische Weltrepublik wird ohne den Abbau von Rohstoffen nicht existieren können. Aber natürlich muss sie auf einen demokratischen sozialen Ausgleich für eben die Menschen hinarbeiten, die für das Gemeinwohl auf etwas verzichten müssen.
Und nicht zuletzt bestimmt die Technik keine bestimmte politische und wirtschaftliche Formation, in der sie verwaltet wird: Es existieren sowohl demokratisch kontrollierte Kernkraftwerke (z.B. die französische Kernkraftflotte, die zumindest dem Staat gehört), als auch „erneuerbare“ Energien in Privatbesitz (z.B. Offshore-Windparks der deutschen Aktiengesellschaft RWE). Die vermeintliche Zentralität der Kernenergie gegenüber der vermeintlichen Dezentralität der erneuerbaren Energien sollte nicht mit den Eigentumsverhältnissen verwechselt werden.
Was die Erneuerbarkeit der Kernenergie angeht, mag folgendes erstaunen. Hören wir auf die Wissenschaft: „Mit einer praktikablen Gewinnungsmethode bietet die Salzwasserextraktion eine nachhaltige Alternative zum Uranabbau an Land, die die Produktion von Atomstrom für Jahrtausende aufrechterhalten könnte. Uranvorkommen sind im Meerwasser reichlich vorhanden und können durch die natürliche Erosion von erzhaltigem Gestein und Boden wieder aufgefüllt werden. Trotz der geringen Konzentrationen, etwa 3 Milligramm Uran pro Tonne Meerwasser, enthalten die Weltmeere riesige Vorräte des Elements, die auf insgesamt vier Milliarden Tonnen geschätzt werden kann – ein 1000-mal größerer Vorrat als alle Landquellen zusammen.“ Klingt ziemlich erneuerbar, nicht wahr?
Wie die Linke lernte, die Kernenergie zu fürchten
Wir müssen gründlich analysieren, wie wir an einen Punkt gelangt sind, an dem selbst wissenschaftsfreundliche Linke ihr Vertrauen in wissenschaftliche Prozesse und Institutionen wie den als vertrauenswürdig geltenden IPCC verlieren, wenn wir den Klimawandel bekämpfen und eine Zukunft in materiellem Überfluss für alle schaffen wollen. Dies erfordert einen Blick auf antimoderne und manchmal sogar strukturell antisemitische Tropen, die wir in vermeintlich fortschrittlichen Kritiken an der Kernenergie finden: Eine immer wiederkehrende Trope im linken Diskurs ist die der angeblichen „Unkontrollierbarkeit“ der Kerntechnik. Solche Vorstellungen rühren jedoch zu einem großen Teil von der faktischen Unkontrollierbarkeit der Technologie durch die Arbeiter im Kapitalismus her, wo die Arbeiter von den Produktionsmitteln entfremdet sind. Die Unkontrollierbarkeit liegt nicht in der Technologie selbst. Sie liegt in den Produktionsverhältnissen. In Bezug auf strukturell antisemitische Tropen finden wir die immer wiederkehrende Vorstellung einer „Atomlobby“, die als allmächtig und unsichtbar dargestellt wird, ohne die tatsächliche Stärke einer tatsächlich existierenden Lobby für Atomenergie zu berücksichtigen. Es ist kein Zufall, dass die erfolgreichste Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland existiert, einem Land mit einer Bevölkerung, die mit der Bösartigkeit der angeblich jüdischen Atomphysik indoktriniert wurde. So wie der Kapitalismus vielen Menschen zu abstrakt und komplex erscheint, um ihn zu begreifen, erscheint die Kernenergie mit ihrer unsichtbaren Strahlung fremd und unverständlich. Aber wir, als linke Akzelerationisten, „fühlen uns wohl in einer Modernität der Abstraktion, Komplexität, Globalität und Technologie“. (Akzelerationistisches Manifest)
Eine negative Sicht auf die Kernenergie hat sich in der Linken nicht immer durchgesetzt. Der marxistische Philosoph Ernst Bloch schrieb im 2. Band von Das Prinzip Hoffnung, erschienen 1955, enthusiastisch:
„Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen, so schafft die Atomenergie, in anderer Maschinerie als der der Bombe, in der blauen Atmosphäre des Friedens, aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling. Einige hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln. Sie würden ausreichen, um der Menschheit die Energie, die sonst in Millionen von Arbeitsstunden gewonnen werden mußte, in schmalen Büchsen, höchstkonzentriert, zum Gebrauch fertig darzubieten.“
Bloch war sich der gesellschaftlichen Tragweite bewusst, die die Fähigkeit des Menschen die Atomenergie zu nutzen, mit sich brachte, und unterschied Kernkraftwerke von Atombomben.
„Sondern eine nicht mehr imperialistische Gesellschaft wird, wie sie die Atomenergien human verwaltet, so sich dieses, […] Material als eines ohne letzthinnige Fremdheit vermitteln.“
Der Topos von der Fähigkeit des Menschen, Atome zu kontrollieren, findet sich in der Geschichte der sozialistischen Propaganda immer wieder. Man denke nur an Diego Riveras „Mann am Scheideweg“ von 1934 oder das Mosaik „Blacksmiths of Modernity“ von Halyna Zubchenko und Hryhorii Pryshedko von 1974! Eine solche sozialistische Vorstellung mit ihren positiven Zukunftsaussichten für die Menschheit aufgrund ihrer Fähigkeit, die Kräfte der Natur zu nutzen, kann für uns heute ein Vorbild sein.
Nun, warum benötigen wir denn die Atomkraft?
Energiepolitik ist eine komplexe Angelegenheit, bei der viele Variablen berücksichtigt werden müssen und sich technologische, ethische, ökologische, geopolitische und wirtschaftliche Fragen überschneiden. Als politische Aktivist*innen sollten wir also auf die Wissenschaft hören: Laut dem IPCC-Sonderbericht „Globale Erwärmung um 1,5 °C“ aus dem Jahr 2018 muss die Kernenergie ein zentraler Bestandteil der Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels sein. Alle vom IPCC vorgestellten Szenarien sehen nicht nur einen massiven globalen Ausbau der „erneuerbaren“ Energien vor, sondern auch der Kernenergie. Dies basiert auf der Annahme, dass ein massiver Rückgang des Energieverbrauchs der Menschheit weder machbar noch wünschenswert ist, da viele Menschen auf der Erde immer noch in (Energie-)Armut leben.
Aus materialistischer Sicht ist es bemerkenswert, dass Energiequellen mit einem hohen EROI (energy return on investment) die beste Grundlage für komplexe Industriegesellschaften mit Energieüberfluss bieten. Schließlich wollen wir doch Wohlstand für alle, oder? Irgendwie müssen diese Roboter, die unsere Arbeit erledigen sollen, mit Energie versorgt werden.
Heute, da die Menschheit verzweifelt nach Antworten auf das Problem des Klimawandels sucht, sehen wir eine neue Generation von Aktivist*innen im linken Spektrum, die sich der Kernenergie gegenüber aufgeschlossener zeigen. Ein paar Beispiele: Im Gegensatz zu ihrem progressiven Parteikollegen Bernie Sanders hat sich Alexandria Ocasio-Cortez dafür ausgesprochen, die Kernenergie in einen Green New Deal einzubeziehen. Der Thinktank Good Energy Collective arbeitet mit einem vielfältigen und überwiegend weiblichen Team an einer progressiven Klimawandel-Agenda, die auch die Kernenergie einschließt. Die Grüne Liga, eine politische Partei in Finnland, befürwortet die Kernenergie.
Und sie alle haben gute Gründe, die Frage der Kernenergie aus einer linken Perspektive anzugehen. So schreiben Leigh Phillips und Michal Rozworski in The People’s Republic of Walmart:
„Der Weltklimarat stellt fest, dass die Kernenergie zwar sauber und nicht mittelfristig ist und einen geringen Flächenverbrauch hat, aber ohne staatliche Unterstützung sind Investitionen in neue (…) Kraftwerke auf deregulierten Märkten derzeit im Allgemeinen wirtschaftlich nicht attraktiv.“ Private Unternehmen weigern sich, ohne öffentliche Subventionen oder Garantien mit dem Bau zu beginnen. Dies erklärt, warum die bisher schnellsten Dekarbonisierungen der Energiewirtschaft vor der europäischen Marktliberalisierung stattfanden, also bevor die Mitgliedsstaaten durch die EU gebunden waren. Die französische Regierung hat etwa ein Jahrzehnt damit verbracht, ihre Nuklearflotte auszubauen, die heute fast 40 Prozent des Energiebedarfs des Landes deckt.“
Der Klimawandel muss jetzt angegangen werden. „Wir brauchen alle Mann an Deck“, wie es der Klimaforscher James Hansen ausdrückt. Dazu gehört auch die Kernenergie. Lasst uns den sozialistischen Traum von der Atomkraft zurückgewinnen, lasst uns die verlorene mögliche Zukunft zurückgewinnen! Denn der Kapitalismus wird es nicht tun.