Warum sekundäre Widersprüche zählen: Eine maoistische Perspektive
von Slavoj Žižek (ursprünglich veröffentlicht auf The Philosophical Salon, 07.01.2019)
übersetzt von Der Spotter

Schon ein kurzer Blick auf unser Durcheinander [imbroglio] macht deutlich, dass wir in eine Vielzahl sozialer Kämpfen verstrickt sind: die Spannung zwischen dem liberalen Establishment und dem neuen Populismus, der ökologische Kampf, Kämpfe für Feminismus und sexuelle Befreiung, ethnische und religiöse Kämpfe, der Kampf für universelle Menschenrechte, Kämpfe gegen die digitale Kontrolle über unser Leben… Wie können wir all diese Kämpfe zusammenbringen, ohne einen von ihnen (sei er ökonomisch, feministisch oder antirassistisch…) einfach als den „wahren“ Kampf zu privilegieren, der den Schlüssel zu allen anderen Kämpfen liefert? Vor einem halben Jahrhundert, auf dem Höhepunkt der maoistischen Welle , war Mao Tsetungs Unterscheidung zwischen „prinzipiellen“ und „sekundären“ Widersprüchen (aus seiner Abhandlung „Über den Widerspruch“ von 1937) in politischen Debatten gängige Praxis. Vielleicht müssen wir diese Unterscheidung im Kontext unserer Fragen wiederbeleben.
Wenn Mao von „Widersprüchen“ spricht, verwendet er den Begriff im einfachen Sinne eines Kampfes von Gegensätzen, von sozialen und natürlichen Antagonismen, nicht im streng dialektischen Sinne, wie er von Hegel artikuliert wurde. Maos Theorie der Widersprüche lässt sich in vier Punkten zusammenfassen:
- Zuerst einmal ist ein spezifischer Widerspruch dasjenige, was ein Ding in erster Linie definiert und es zu dem macht, was es ist: Der Widerspruch ist kein Fehler, kein Versagen, nicht die Fehlfunktion eines Dings, sondern in gewisser Weise genau dasjenige Merkmal, welches dieses zusammenhält. Wenn dieser Widerspruch verschwindet, verliert das Ding seine Identität. Ein klassisches marxistisches Beispiel: Der primäre Widerspruch, der die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften definiert, ist der Klassenkampf.
- Zweitens tritt ein Widerspruch nie alleine auf; er hängt von anderen Widersprüchen ab. Maos eigenes Beispiel: In einer kapitalistischen Gesellschaft wird der Widerspruch zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie von anderen „sekundären“ Widersprüchen begleitet, wie dem zwischen den Imperialisten und ihren Kolonien.
- Drittes, während ein sekundärer Widerspruch vom ersten abhängt (Kolonien gibt es nur im Kapitalismus), ist der Hauptwiderspruch nicht immer der dominante. Widersprüche können Plätze in der Reihenfolge ihrer Bedeutung tauschen. Ein Beispiel: Wenn ein Land besetzt ist, ist es die herrschende Klasse, die gewöhnlich bestochen wird, um mit den Besatzern zusammenzuarbeiten, um ihre privilegierte Position aufrechtzuerhalten. In diesem Fall wird der Kampf gegen die Besatzer zur Priorität. Das Gleiche kann für den Kampf gegen den Rassismus gelten; in einem Zustand rassischer Spannungen und Ausbeutung besteht die einzige Möglichkeit, effektiv für die Arbeiterklasse zu kämpfen, darin, sich auf die Bekämpfung des Rassismus zu konzentrieren (deshalb ist jeder Appell an die weiße Arbeiterklasse, wie im heutigen Alt-Right-Populismus, ein Verrat am Klassenkampf).
- Viertens kann sich auch der Hauptwiderspruch ändern. Man kann argumentieren, dass der ökologische Kampf heute vielleicht den „Hauptwiderspruch“ unserer Gesellschaften bezeichnet, da er sich mit einer Bedrohung des kollektiven Überlebens der Menschheit selbst befasst. Man kann natürlich argumentieren, dass unser „Hauptwiderspruch“ der Antagonismus des globalen kapitalistischen Systems bleibt, da ökologische Probleme das Ergebnis der exzessiven Ausbeutung natürlicher Ressourcen sind, die vom kapitalistischen Profitstreben angetrieben wird. Es ist jedoch fraglich, ob sich unser ökologisches Durcheinander so leicht auf bloßen einen Effekt kapitalistischer Expansion reduzieren lässt. Schon vor dem Kapitalismus gab es ökologische Katastrophen menschlichen Ursprungs, und es gibt keinen Grund, warum eine blühende postkapitalistische Gesellschaft nicht auch in die gleiche Sackgasse geraten sollte.
Um es noch einmal zusammenzufassen: Es gibt zwar immer einen Hauptwiderspruch, aber Widersprüche können auf der Skala der Wichtigkeit ihre Plätze tauschen. Wenn wir es also mit einer komplexen Reihe von Widersprüchen zu tun haben, sollten wir den übergeordneten Widerspruch ausfindig machen, aber wir sollten auch bedenken, dass Haupt- und Nicht-Hauptwidersprüche nicht statisch sind: Mit der Zeit verwandeln sie sich ineinander. Diese Vielzahl von Widersprüchen ist nicht nur eine kontingente empirische Tatsache; sie definiert den Begriff des (einzelnen) Widerspruchs selbst. Jeder Widerspruch hängt von der Existenz „mindestens eines“ (anderen Widerspruchs) ab, und sein „Leben“ hängt davon ab, wie er mit anderen Widersprüchen interagiert. Wenn ein Widerspruch für sich allein stehen würde, wäre er kein „Widerspruch“ (Kampf der Gegensätze), sondern eine stabile Opposition. Der „Klassenkampf“ liegt darin begründet, wie er die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, den Kampf mit der Natur im Produktionsprozess, die Spannungen zwischen verschiedenen Kulturen und Rassen überdeterminiert…
So altmodisch und hoffnungslos veraltet diese Grüblereien auch erscheinen mögen, heute erhalten sie eine neue Aktualität. Mein erster „maoistischer“ Punkt ist, dass man, um in jedem der heutigen Kämpfe eine korrekte Haltung einzunehmen, jeden von ihnen in einer komplexen Wechselwirkung mit anderen Kämpfen verorten sollte. Ein wichtiges Prinzip dabei ist, dass wir im Gegensatz zur gegenwärtigen Mode an „binären“ Formen der Opposition festhalten und jedes Auftreten mehrerer Positionen in eine Kombination „binärer“ Gegensätze übersetzen sollten. Heute haben wir nicht drei Hauptpositionen (liberal-zentristische Hegemonie, Rechtspopulismus und die neue Linke), sondern zwei Antagonismen: Rechtspopulismus und liberal-zentristisches Establishment, und beide, als die beiden Seiten der bestehenden kapitalistischen Ordnung, stehen der Linken gegenüber, die diese Ordnung herausfordert.
Beginn wir mit einem einfachen Beispiel. Mazedonien: Was steckt in einem Namen? Vor einigen Monaten haben die Regierungen Mazedoniens und Griechenlands eine Vereinbarung darüber konkretisiert, wie das Problem des Namens „Mazedonien“ gelöst werden kann: Mazedonien sollte seinen Namen in „Nordmazedonien“ ändern. Diese Lösung wurde von den Radikalen in beiden Ländern sofort angegriffen: Die Griechen bestanden darauf, dass „Mazedonien“ ein alter griechischer Name sei, und die Mazedonier fühlten sich gedemütigt, da sie auf eine „nördliche“ Provinz reduziert wurden, da sie das einzige Volk sind, das sich selbst „Mazedonier“ nennt. So unvollkommen diese Lösung auch war, so bot sie doch einen Hoffnungsschimmer, um einen langen und sinnlosen Kampf durch einen vernünftigen Kompromiss zu beenden. Aber sie war in einem anderen „Widerspruch“ gefangen: dem Kampf zwischen den Großmächten (die USA und die EU auf der einen Seite, Russland auf der anderen). Der Westen übte Druck auf beide Seiten aus, den Kompromiss zu akzeptieren, so dass Mazedonien schnell der EU und der NATO beitreten konnte, während Russland sich aus genau demselben Grund (da es in dieser Entwicklung die Gefahr sah, seinen Einfluss auf dem Balkan zu verlieren) der Lösung widersetzte und tollwütige konservativ-nationalistische Kräfte in beiden Ländern unterstützte. Welche Position sollten wir also hier vertreten? Ich denke, wir sollten uns entschieden auf die Seite des Kompromisses schlagen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass dies die einzige realistische Lösung des Problems ist. Russland hat sich diesem Kompromiss aufgrund geopolitischen Interessen widersetzt, ohne eine andere Lösung anzubieten, so dass eine Unterstützung Russlands hier bedeutet hätte, eine vernünftige Lösung für das singuläre Problem der mazedonischen und griechischen Beziehungen internationalen geopolitischen Interessen zu opfern.
Wenn wir weitermachen und den Fall von Julian Assange und Wikileaks betrachten, sehen wir, dass auch hier zwei Kämpfe miteinander verflochten sind. Unsere großen Medien haben sich in letzter Zeit auf Assanges Beziehungen zu Russland und seine „Einmischung“ in die US-Wahlen konzentriert. Hat er sich mit Manafort getroffen, oder hat er es nicht getan? usw. Wie üblich haben wir es in diesem Fall mit schmutzigen politischen Spielchen zu tun: Als das Vereinigte Königreich sagte, es würde Assange nicht an ein Land ausliefern, in dem ihm die Todesstrafe droht (anstatt einfach zu sagen, dass er wegen Wikileaks nicht an die USA ausgeliefert wird), bestätigte es praktisch die Möglichkeit seiner Auslieferung an die USA. Aber wir sollten uns nicht in diesen Debatten verfangen, die nur einen „sekundären Widerspruch“ betreffen. Wikileaks ist viel mehr als ein Element im Kampf zwischen den USA und Russland oder im Kampf zwischen Trump und dem US-Establishment (der „russischen Verbindung“ bei den letzten Präsidentschaftswahlen). Der „Hauptwiderspruch“ ist hier der Kampf gegen neue Formen der digitalen Kontrolle und Regulierung unseres Lebens, gegen die Koalition von staatlichen Behörden (NSA) und großen Unternehmen (Google usw.), die mehr und mehr eine unsichtbare Kontrolle über unser Leben ausüben, eine Kontrolle, der wir uns in der Regel nicht einmal bewusst sind. Genau darum geht es bei Wikileaks, und all die Debatten über Assanges Fehler sollen diesen zentralen Punkt verschleiern.
Nehmen wir nun die Verhaftung von Meng Wanzhou, Huawei’s Finanzchefin und Tochter des Firmengründers, in Vancouver. Ihr wird vorgeworfen, gegen US-Sanktionen gegen den Iran verstoßen zu haben, und ihr droht die Auslieferung an die USA, wo sie im Falle eines Schuldspruchs bis zu 30 Jahre ins Gefängnis kommen könnte. Was ist hier wahr? Aller Wahrscheinlichkeit nach brechen alle großen Unternehmen auf die eine oder andere Weise diskret die Gesetze. Aber es ist mehr als offensichtlich, dass dies nur ein „sekundärer Widerspruch“ ist und dass hier eine weitere Schlacht geschlagen wird: Es geht nicht um den Handel mit dem Iran, sondern um den Kampf um die Vorherrschaft in der Produktion von digitaler Hard- und Software. Was Huawei symbolisiert, ist ein China, das nicht länger das Foxconn-China ist, der Ort der Halbsklavenarbeit, an dem anderswo entwickelte Maschinen montiert werden, sondern ein Ort, an dem Software und Hardware gemeinsam konzipiert werden. China hat somit das Potenzial, ein viel stärkerer Akteur auf dem digitalen Markt zu werden als Japan mit Sony oder Südkorea mit Samsung.
Aber genug der partikularen Beispiele. Mit dem Kampf für universelle Menschenrechte werden die Dinge komplexer. Was wir hier erhalten, ist ein „Widerspruch“ zwischen den Befürwortern dieser Rechte und denen, die davor warnen, dass die universellen Menschenrechte in ihrer Standardversion nicht wirklich universell sind, sondern implizit westliche Werte privilegieren (Individuen haben Vorrang vor Kollektiven usw.) und damit eine Form von ideologischem Neokolonialismus darstellen. Kein Wunder also, dass der Verweis auf die Menschenrechte als Rechtfertigung für viele militärische Interventionen diente, vom Irak bis Libyen. Partisanen der universellen Menschenrechte halten dem entgegen, dass deren Ablehnung oft dazu dient, lokale Formen autoritärer Herrschaft und Unterdrückung als Elemente einer bestimmten Lebensweise zu rechtfertigen… Wie soll man sich hier entscheiden? Ein Kompromiss auf halbem Weg reicht nicht aus. Man sollte den universellen Menschenrechten aus einem ganz bestimmten Grund den Vorzug geben: Die Dimension der Universalität muss als Medium dienen, in dem mehrere Lebensformen koexistieren können, und die westliche Vorstellung von universellen Menschenrechten enthält die selbstkritische Dimension, die ihre eigenen Grenzen sichtbar macht. Wenn der westliche Standardbegriff der universellen Menschenrechte wegen seiner besonderen Voreingenommenheit kritisiert wird, muss sich diese Kritik selbst auf eine Vorstellung von einer authentischeren Universalität beziehen, die uns die Verzerrung einer falschen Universalität erkennen lässt. Aber irgendeine Form von Universalität ist immer vorhanden – selbst eine bescheidene Vision der Koexistenz verschiedener und letztlich unvereinbarer Lebensweisen muss sich darauf stützen. Kurz gesagt bedeutet dies, dass der „Hauptwiderspruch“ nicht derjenige der Spannung(en) zwischen verschiedenen Lebensformen ist, sondern der „Widerspruch“ innerhalb jeder Lebensform („Kultur“, Organisation ihrer jouissance), der zwischen ihrer Partikularität und ihrem universellen Anspruch verläuft. Um einen Fachbegriff zu verwenden, ist jede partikulare Lebensweise per Definition in einem „pragmatischen Widerspruch“ gefangen, so dass ihr Geltungsanspruch nicht durch das Vorhandensein anderer Lebensweisen, sondern durch ihre eigene Inkonsequenz untergraben wird.
Noch komplizierter wird die Sache mit dem „Widerspruch“ zwischen dem rechtsextremen Abstieg in die rassistische/sexistische Vulgarität und dem politisch korrekten rigiden Regulierungsmoralismus. Aus der Sicht eines fortschrittlichen Emanzipationskampfes ist es entscheidend, diesen „Widerspruch“ NICHT als primär zu akzeptieren, sondern in ihm die verdrängten und verzerrten Echos des Klassenkampfes aufzulösen. Auf faschistische Weise verbindet die rechtspopulistische Figur des Feindes (eine Mischung aus Finanzeliten und Immigranten) beide Extreme der sozialen Hierarchie und verwischt damit den Klassenkampf; auf der anderen Seite und auf fast symmetrische Weise verbergen politisch korrekter Antirassismus und Antisexismus kaum, dass ihr Endziel der Rassismus und Sexismus der weißen Arbeiterklasse ist, wodurch auch der Klassenkampf neutralisiert wird. Deshalb ist es falsch die politischen Korrektheit als „Kulturmarxismus“ zu bezeichnen: Politische Korrektheit in all ihrer Pseudoradikalität ist im Gegenteil die letzte Verteidigung des „bürgerlichen“ Liberalismus gegen den Marxismus, die den Klassenkampf als „Hauptwiderspruch“ verschleiert und verdrängt.
Das Gleiche gilt für Transgender- und MeToo-Kämpfe: Auch sie werden durch den „Hauptwiderspruch“ des Klassenkampfes überdeterminiert, der einen Antagonismus in ihr Innerstes einführt. Eine schwarze Frau, Tarana Burke, die vor mehr als zehn Jahren die MeToo-Kampagne ins Leben rief, bemerkte in einer kürzlich erschienenen kritischen Notiz, dass die Bewegung in den Jahren seit ihren Anfängen eine unerschütterliche Besessenheit von den Tätern, einen zyklischen Zirkus von Anschuldigungen, Schuldzuweisungen und Indiskretionen entfaltete: „Wir arbeiten fleißig daran, dass sich die populäre Erzählung über MeToo von dem entfernt, was sie ist. Wir müssen die Erzählung verschieben, dass es sich um einen Geschlechterkrieg handelt, dass es männerfeindlich ist, dass es Männer gegen Frauen ist, dass es nur für einen bestimmten Typ von Menschen ist – dass es für weiße, cis-geschlechtliche, heterosexuelle, berühmte Frauen ist.“ 1 Kurz gesagt, man sollte darum kämpfen, MeToo wieder auf das tägliche Leid von Millionen gewöhnlicher arbeitender Frauen und Hausfrauen zu fokussieren. Dies kann mit Nachdruck getan werden: In Südkorea zum Beispiel explodierte MeToo, als Zehntausende gewöhnlicher Frauen gegen ihre sexuelle Ausbeutung demonstrierten.
Die anhaltenden Proteste der Gelbwesten (Gilets Jaunes) in Frankreich verdichten alles, worüber wir gesprochen haben. Sie begannen als eine Graswurzelbewegung, die aus der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit einer neuen Ökosteuer auf Benzin und Diesel entstand, welche vor allem diejenigen trifft, die außerhalb der Ballungsgebiete leben und arbeiten, in denen es keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt. In den letzten Wochen ist die Bewegung gewachsen und hat sich zu einer ganzen Reihe von Forderungen entwickelt, darunter Frexit (der Austritt Frankreichs aus der EU), niedrigere Steuern, höhere Renten und eine Verbesserung der Kaufkraft der einfachen Franzosen. Sie bieten einen beispielhaften Fall von Linkspopulismus, von der Explosion des Volkszorns in all seiner Inkonsequenz: niedrigere Steuern und mehr Geld für Bildung und Gesundheitsversorgung, billigeres Benzin und ökologischer Kampf… Obwohl die neue Benzinsteuer offensichtlich eine Ausrede oder vielmehr ein Vorwand war (und daher nicht das, worum es bei den Protesten „wirklich geht“), ist es bezeichnend, dass das, was die Proteste auslöste, eine Maßnahme war, die gegen die globale Erwärmung wirken sollte. Aus diesem Grund unterstützte Trump begeistert die Gelbwesten (er halluzinierte sogar Rufe einiger der Protestierenden als „Wir wollen Trump!“) und stellte fest, dass eine der Forderungen darin bestand, dass Frankreich aus dem Pariser Abkommen aussteigt. (In einem Hotelzimmer kann man ein Schild an die Tür hängen, auf dem entweder „Bitte Zimmer reinigen!“ oder „Bitte nicht stören!“ steht. Immer, wenn ich dieses Schild sehe, stelle ich mir eine einzige Seite des Schildes vor, auf der steht: „Bitte nicht stören beim Aufräumen des Zimmers!“ Sind die Forderungen der gelben Westen nicht eine ähnliche Kombination widersprüchlicher Forderungen? „Bitte schützen Sie unsere Umwelt und sorgen Sie gleichzeitig für billigeren Sprit!“)
Die Bewegung der Gelbwesten fügt sich in die spezifische Tradition der französischen Linken ein, in der große öffentliche Proteste stattfinden, die sich an die politische Elite und nicht nur an die Geschäfts- oder Finanzelite richten. Im Gegensatz zu den 68er-Protesten sind die gelben Westen jedoch viel mehr eine Bewegung des France profonde („tiefes Frankreich“), seiner Revolte gegen die großen Metropolen, was bedeutet, dass seine linke Ausrichtung viel unschärfer ist. (Sowohl le Pen als auch Melenchon unterstützen die Proteste.) Wie erwartet fragen die Kommentatoren, welche politische Kraft sich die Energie der Revolte aneignen wird, le Pen oder eine neue Linke, wobei die Puristen fordern, dass sie eine „reine“ Protestbewegung auf Distanz zur etablierten Politik bleibt. Eines sollte hier klar sein: Bei all der Explosion der Forderungen und dem Ausdruck der Unzufriedenheit ist es klar, dass die Protestierenden nicht wirklich wissen, was sie wollen. Sie haben keine Vision von einer Gesellschaft, die sie wollen, sondern nur eine Mischung von Forderungen, die innerhalb des Systems unmöglich zu erfüllen sind, obwohl sie sich an das System wenden. Dieses Merkmal ist entscheidend: Ihre Forderungen drücken ihre Interessen aus, die im bestehenden System verwurzelt, aber mit ihm unvereinbar sind.
Man darf nicht vergessen, dass die Demonstranten ihre Forderungen an das (politische) System in seiner besten Form richten, was in Frankreich bedeutet: Macron. Die Proteste markieren das Ende des Macron-Traums. Erinnern wir uns an die Begeisterung darüber, dass Macron neue Hoffnung bietet, nicht nur die rechtspopulistische Bedrohung zu besiegen, sondern auch eine neue Vision einer fortschrittlichen europäischen Identität zu liefern, was Philosophen wie Habermas und Sloterdijk dazu brachte, ihn zu unterstützen. Erinnern wir uns auch daran, wie jede linke Kritik an Macron, jede Warnung vor den fatalen Grenzen seines Projekts als „objektive“ Unterstützung von Marine le Pen abgetan wurde.
Heute, angesichts der anhaltenden Proteste in Frankreich, werden wir brutal mit der traurigen Wahrheit der pro-Macron-Begeisterung konfrontiert. Macrons Fernsehansprache an die Protestierenden am 10. Dezember war eine miserable Darbietung, eine halb kompromisslose Halb-Apologie, die niemanden überzeugte und durch ihren Mangel an Visionen auffiel. Macron mag das beste des bestehenden Systems sein, aber seine Politik ist fest in den liberal-demokratischen Koordinaten der aufgeklärten Technokratie verankert. Wie jeder weiß, der Probleme mit Verstopfung hat, ist ein Suppositorium (Zäpfchen:suppository – Amn. d. Übers.) eine feste Darreichungsform, die in den Enddarm eingeführt wird, um die Exkrementation zu erleichtern. Ich fand es immer seltsam, dass ein so nobler philosophisch klingender Begriff für eine ziemlich ekelerregende Aufgabe verwendet wird. Und ist es nicht dasselbe mit der Art und Weise, wie viele unserer Wirtschaftsexperten sprechen, wenn sie ziemlich brutale Maßnahmen, die den einfachen Menschen schaden, als „Stabilisierung“ oder „Regulierung“ bezeichnen? Macron bleibt in diesem Expertenrahmen, und deshalb hat seine Reaktion auf die Proteste einen solchen Aufruhr verursacht.
Wir sollten daher den Protesten ein bedingtes JA geben – bedingt, da es klar ist, dass der Linkspopulismus keine machbare Alternative zum System darstellt. Stellen wir uns vor, dass die Protestierenden irgendwie gewinnen, die Macht übernehmen und innerhalb der Koordinaten des bestehenden Systems handeln, wie es Syriza in Griechenland getan hat. Was würde dann geschehen? Wahrscheinlich eine Art wirtschaftliche Katastrophe. Das bedeutet nicht, dass wir einfach ein anderes sozioökonomisches System brauchen, das den Forderungen der Demonstranten gerecht werden könnte. Der Prozess einer radikalen Transformation würde vielmehr andere Forderungen und Erwartungen wecken. Sagen wir, was die Treibstoffkosten betrifft, so ist das, was wir wirklich brauchen, nicht nur billiger Treibstoff; das wahre Ziel ist es, unsere Abhängigkeit vom Öl aus ökologischen Gründen zu verringern, nicht nur unseren Verkehr, sondern unsere gesamte Lebensweise zu verändern. Dasselbe gilt für niedrigere Steuern sowie eine bessere Gesundheitsversorgung und Bildung: Das ganze Paradigma wird sich ändern müssen.
Und dasselbe gilt auch für unser großes ethisch-politisches Problem: Wie sollen wir mit den Flüchtlingen umgehen? Die Lösung besteht nicht nur darin, die Grenzen für alle zu öffnen, die hineinkommen wollen, und diese Offenheit mit unserer allgemeinen Schuld zu begründen („Der Kolonialismus ist unser größtes Verbrechen, das wir für immer zurückzahlen müssen“). Wenn wir auf dieser Ebene bleiben, dienen wir perfekt den Interessen der Machthaber, die den Konflikt zwischen Einwanderern und der lokalen Arbeiterklasse schüren, deren Mitglieder sich von ihnen bedroht fühlen, und behalten ihre überlegene moralische Haltung bei. (In dem Moment, in dem man beginnt, in diese Richtung zu denken, schreit die politisch korrekte Linke sofort Faschismus – man sehe sich nur die heftigen Angriffe auf Angela Nagle für ihren herausragenden Aufsatz „Das linke Argument gegen offene Grenzen“.2 Auch hier ist der „Widerspruch“ zwischen den Befürwortern offener Grenzen und populistischen Anti-Immigranten ein falscher „sekundärer Widerspruch“, dessen letztendliche Funktion darin besteht, die Notwendigkeit einer Veränderung des Systems selbst zu verschleiern, d.h. des gesamten internationalen Wirtschaftssystems, das in seiner gegenwärtigen Form Flüchtlinge hervorbringt.
Heißt das, dass wir geduldig auf eine große Veränderung warten sollten? Nein, wir können gleich jetzt mit Maßnahmen beginnen, die bescheiden erscheinen, aber dennoch die Grundlagen des bestehenden Systems untergraben, wie das geduldige unterirdische Ausgraben eines Maulwurfs. Wie steht es mit der Überholung unseres gesamten Finanzsystems, die sich auf die Regeln für die Funktionsweise und Vergabe von Krediten und Investitionen auswirken würde? Wie wäre es mit neuen Vorschriften, die die Ausbeutung der Länder der Dritten Welt, aus denen die Flüchtlinge kommen, verhindern würden?
Das alte 68er-Motto „Soyons realistes, demandons l’impossible! („Lasst uns realistisch sein, fordern wir das Unmögliche“) bleibt voll und ganz aktuell, unter der Bedingung, dass wir die Verschiebung zur Kenntnis nehmen, der es unterworfen werden muss. Zunächst einmal gibt es das „Fordern des Unmöglichen“ im Sinne einer Bombardierung des bestehenden Systems mit Forderungen, die es nicht erfüllen kann: offene Grenzen, bessere Gesundheitsversorgung, höhere Löhne… Da sind wir heute, inmitten einer hysterischen Provokation unserer Herren, der technokratischen Experten. Auf diese Provokation muss ein weiterer wichtiger Schritt folgen: nicht das Unmögliche vom System zu verlangen, sondern „unmögliche“ Veränderungen des Systems selbst. Auch wenn solche Veränderungen „unmöglich“ erscheinen (undenkbar innerhalb der Koordinaten des Systems), so sind sie doch aufgrund unserer ökologischen und sozialen Zwangslage eindeutig erforderlich und bieten die einzige realistische Lösung.
An diesem Punkt sollten wir uns sehr klar sein: Um diesen wichtigen Schritt zu vollziehen, muss ein Wechsel vom Hysteriker zum Meister/Herren stattfinden: ein neuer Meister ist nötig. Hier stoßen wir auf die fatale Einschränkung des viel gepriesenen „führerlosen“ Charakters der französischen Demonstranten, ihrer chaotischen Selbstorganisation. Es reicht nicht aus, dass ein Führer dem Volk zuhört und in einem Programm formuliert, was es will, nämlich seine Interessen. Der alte Henry Ford hatte Recht, als er bemerkte, dass er, wenn er ein Serienauto anbot, nicht dem folgte, was die Leute wollten; wie er es kurz und bündig formulierte, wenn er gefragt worden wäre, was sie wollen, hätten die Leute geantwortet: „Ein besseres und stärkeres Pferd, um unsere Kutsche zu ziehen!“ Diese Einsicht findet ein Echo in Steve Jobs‘ berüchtigtem Motto: „Oft wissen die Leute nicht, was sie wollen, bis man es ihnen zeigt“. Trotz allem, was man an der Tätigkeit von Jobs zu kritisieren hat, stand er einem authentischen Meister nahe, so wie er sein Motto verstand. Als man ihn fragte, wie viele Marktforschung darüber, was die Kunden von Apple wollen, er anstelle, schnappte er zurück: „Keine. Es ist nicht die Aufgabe der Kunden zu wissen, was sie wollen… wir finden heraus, was wir wollen.“ Beachten Sie die überraschende Wendung dieser Argumentation: Nachdem er bestritten hat, dass die Kunden wissen, was sie wollen, fährt Jobs nicht mit der erwarteten direkten Umkehrung fort: „Es ist unsere Aufgabe (die Aufgabe der kreativen Kapitalisten), herauszufinden, was die Kunden wollen, und es ihnen dann auf dem Markt ‚zu zeigen'“. Stattdessen, so fährt er fort, „finden wir heraus, was wir wollen“. So arbeitet ein wahrer Meister: Er versucht nicht zu erraten, was die Menschen wollen; er gehorcht einfach seinem eigenen Wunsch, so dass es den Menschen überlassen bleibt, ob sie ihm folgen. Mit anderen Worten, seine Macht rührt von seiner Treue zu seiner Vision her, davon, dass er sie nicht kompromittiert.
Und dasselbe gilt für einen politischen Führer, der heute gebraucht wird. Die Demonstranten in Frankreich wollen ein besseres (stärkeres und billigeres) Pferd – in diesem Fall, ironischerweise, billigeres Benzin für ihre Autos. Ihnen sollte die Vision einer Gesellschaft vermittelt werden, in der der Kraftstoffpreis keine Rolle mehr spielt, so wie nach den Autos der Preis für Pferdefutter keine Rolle mehr spielt.
Ein mögliches Gegenargument ist, dass der „chaotische“ führerlose und dezentralisierte Charakter der Gelbe-Westen-Proteste gerade ihre Stärke ist: Anstatt dass ein klarer Akteur Forderungen an die Staatsmacht richtet und sich damit als Dialogpartner anbietet, bekommen wir polymorphen Volksdruck. Was die Machthaber in Panik versetzt, ist genau der Umstand, dass dieser Druck nicht in einem klaren Gegner lokalisiert werden kann, sondern eine Version dessen bleibt, was Negri die Multitude nannte. Wenn sich ein solcher Druck in konkreten Forderungen ausdrückt, dann sind diese Forderungen nicht das, worum es bei dem Protest wirklich geht… Irgendwann jedoch müssen sich hysterische Forderungen in ein politisches Programm übersetzen (sonst verschwinden sie), und wir sollten die Forderungen der Protestierenden vielleicht als Ausdruck einer tieferen Unzufriedenheit mit der liberal-demokratischen kapitalistischen Ordnung lesen, in der Forderungen nur durch den Prozess der parlamentarischen politischen Repräsentation erfüllt werden können. Mit anderen Worten, die Proteste enthalten eine tiefere Forderung nach einer anderen Logik der wirtschaftlich-politischen Organisation, und hier ist ein neuer Führer erforderlich, um ihre Forderung zu operationalisieren.