Lenin wäre heute ein Reformer
von Leon

Lenin war ein Mann der russischen Arbeiterbewegung, ein Anführer der radikalen Splitterfraktion der Bolschewiki innerhalb der russischen Sozialdemokratie. Er gehört ohne Zweifel zu den einflussreichsten Figuren innerhalb der radikalen Linken und hat vor der russischen Revolution immer wieder erbittert gegen ReformistInnen, Trade-UnionistInnen und andere gemäßigte Fraktionen argumentiert. Man kann ihn sich bei einer seiner zahlreichen Reden vorstellen: Arbeitermassen, die gespannt lauschen. Flammende, rote Fahnen. Der Ruf „Revolution!“. Darauf ein begeisterter, tosender Applaus. Ein rhetorisches Feuerwerk über Arbeitermassen, Revolution und Kommunismus. Doch heute würde er für den typischen linksradikalen LARPer wohl als Reformer und Klassenverräter gelten.
Was Lenin im Kern auszeichnet, ist nicht etwa sein Radikalismus und sein unbedingter Wille zur Revolution. Der Kern seines Genies liegt vielmehr in seinen strategischen Überlegungen. Er hat wunderbar demonstriert, dass seine Vorgehensweise, die schließlich zu einer erfolgreichen Revolution führte, zu seiner Zeit richtig war. Immer wieder hat Lenin gegen etwaige Verirrungen seiner ZeitgenossInnen argumentieren müssen. In „Der ‚Linke Radikalismus‘ – Die Kinderkrankheit des Kommunismus“ beschreibt er, wie Linke, die sich nicht am „erzreaktionären Parlament“ beteiligen wollten, 1907 kurzerhand von den Bolschewiki ausgeschlossen worden sind. LeserInnen seiner Werke wissen, wie abfällig er Teile seiner Gegnerschaft als “Revolutionäre der Phrase” beschrieb. Aus seiner richtigen Analyse konnte er richtige Schlussfolgerungen ziehen. Dazu waren viele seiner MitstreiterInnen nicht in der Lage.
Gerade MarxistInnen sollte allerdings in Anbetracht der Tatsache, dass Lenin damals radikal für den sofortigen Sturz der herrschenden Klasse agitierte, klar sein, dass seine Strategie und sein Auftreten sich auf die konkreten historischen Umstände bezogen, welche die bolschewistische Strategie in dieser Situation zur richtigen machten. Viele, die sich selbst MarxistInnen nennen würden, scheinen jedoch rhetorisch, strategisch und ästhetisch im frühen zwanzigsten Jahrhundert stecken geblieben zu sein. Man kennt diese Personen in der Szene der LinksaktivistInnen als „LARPer“ (Live Action Role Player). Gerne wären sie wie jener idealisierte Lenin der sowjetischen Propaganda, der schwingende Reden hält und die Massen zum Sturm auf den Winterpalast anstachelt. Doch der echte Lenin würde sie verachten, so wie er damals die kinderkranken KommunistInnen verachtete.
Statt sich von Lenin eine Scheibe abzuschneiden und Fragen der transformativen Strategie ernsthaft zu diskutieren, ziehen es die linksradikalen LARPer vor, sich in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit zu agitieren. Hierfür ursächlich ist das, was der Kulturwissenschaftler Mark Fisher als “Capitalist Realism” bezeichnet: Wir leben in einer Ära, in welcher der Kapitalismus als alternativlos wahrgenommen wird. Die gesellschaftliche Linke ist seit den 70ern in einer defensiven Position und weit entfernt von einem bedeutenden transformatorischen Potenzial. Diese Hoffnungslosigkeit manifestiert sich in einer Romantisierung und Nachahmung erfolgreicher kommunistischer Bewegungen der Vergangenheit. Dass diese Spielerei zur Entfremdung von den Arbeitenden beiträgt und den kapitalistischen Verhältnissen nur in die Hände spielen kann, muss hier nicht weiter ausgeführt werden.
Man kann die Diagnose für KPD, DKP, SAV und Andere also wie folgt zusammenfassen: eine haarsträubende Ignoranz gegenüber dem Zeitgeist, den politischen Umständen und dem Stand des derzeitigen Klassenbewusstseins. Es bedarf keines großen Genies, keiner großen historischen Kenntnis, um zu schlussfolgern, dass Lenin diese Fehler nicht unterlaufen wären. Nein, ein Leninismus wäre unter den zeitgenössischen Opfern der Kinderkrankheit als Reformismus verschrien. Denn unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Situation kann man bis zur Verschärfung des Klassenkampfes nichts anderes tun, als die radikale Linke durch Realpolitik zu stärken, Vernetzung und Koordination verschiedener Organisationen voranzutreiben und die kulturelle Hegemonie anzustreben. Um von einer der kommenden kapitalistischen Krisen zu profitieren, müssen wir zunächst ein organisatorisches Netzwerk schaffen, das dieses Potenzial in höhere Wahlergebnisse und steigendes Klassenbewusstsein umwandeln kann.
Der Leninismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts muss, wenn er relevant bleiben will, eine pragmatische Haltung zur Gegenwart einnehmen. Wir müssen die Rhetorik und Ästhetik aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert hinter uns lassen. Hammer-und-Sichel-Symbole müssen abgestoßen, das Gerede von nicht existierenden revolutionären Arbeitermassen eingestellt werden. Wir brauchen neue Strategien, neue Rhetorik, neue kulturelle Erzeugnisse. Der Verrat an den ArbeiterInnen liegt nämlich in Wahrheit darin, dass man Rechtsradikalen und Neoliberalen kampflos das Feld überlässt, um den Traum einer Revolution möglichst detailgetreu nachzuempfinden.
Auch die Lohnabhängigen merken, dass hinter den verbalradikalen Phrasen und altbackenen Symbolen keine politisch tragbaren und umsetzbaren Konzepte stecken. Weder realpolitische Aussichten auf eine kurzfristige Besserung der Lage von Lohnabhängigen, noch eine konkrete Vision für eine andere und bessere Gesellschaft, der man sich anschließen könnte. Es gibt keine nennenswerten Strömungen im radikalen linken Spektrum, die in puncto taktisches Geschick oder organisatorische Praxis mit Liberalen oder Faschisten konkurrieren könnten. Zum Revolverduell erscheinen sie mit stumpfen Messern.