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Ein europäischer New Deal zum Ankreuzen: Die Partei European Spring stellt sich zur Europawahl 2019

von Lucien Groll

Bereits im Juni 2017 haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wie ein europäischer New Deal1 aussehen könnte und ob er in Kürze auf dem Wahlzettel zu finden sein wird. Seither hat sich der deutsche Ableger der Bewegung DiEM25 mit der Partei Demokratie in Bewegung zur neuen Partei Demokratie in Europa zusammengeschlossen. Diese stellt wiederum die deutsche Version der paneuropäischen Partei European Spring dar, die zur Europawahl im Mai 2019 antreten wird.

Am 25. Januar 2019 präsentierten VertreterInnen des European Spring aus ganz Europa — darunter der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis — in Berlin offiziell den New Deal for Europe. So heißt das Programm des European Spring zur Europawahl. Wir haben für euch das 45-seitige Manifest gelesen und fassen hier in aller Kürze die aus unserer Sicht wichtigsten und herausstechenden Forderungen zusammen. Zusätzlich liefern wir eine grobe Einordnung, inwieweit uns die Umsetzung dieser Forderungen einer postkapitalistischen Gesellschaft näher bringen könnte.

Demokratie

Die Vorschläge des European Spring sehen vor, das demokratisch gewählte Europäische Parlament mit weiteren Machtbefugnissen gegenüber der Europäischen Kommission auszustatten, denn Letztere wird von den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten gebildet und besitzt keine demokratische Legitimität. Gleichzeitig soll es der lokalen Ebene erleichtert werden, nachhaltig und ethisch zu wirtschaften sowie restriktive nationale Asylgesetzgebungen zu umgehen. Des Weiteren ist die Ausarbeitung einer neuen europäischen Verfassung vorgesehen, die unter anderem durch BürgerInnenversammlungen gestaltet werden soll. Außerdem soll ein EU-Lobbyregister eingeführt werden.

Ökonomie

Bezüglich wirtschaftlicher Thematiken schlägt European Spring vor, allen BürgerInnen in der Europäischen Union eine Dividende auszuzahlen. Diese Dividende soll über einen öffentlichen Fonds unabhängig von anderen Sozialleistungen gezahlt werden und einen ersten Schritt hin zu einem universellen Grundeinkommen darstellen. Zudem ist geplant, allen Arbeitssuchenden ein Recht auf einen Arbeitsplatz zu verbriefen. Ein europäischer Mindestlohn soll ebenso eingeführt werden wie eine Maximalarbeitszeit von 35 Stunden pro Woche. Mittlere und große Unternehmen sollen ArbeiterInnen an ihren Gewinnen beteiligen. Ein weiterer Vorschlag lautet, dass ArbeiterInnen Delegierte in Unternehmensvorstände wählen können und Löhne von ManagerInnen in Relation zu denen der schlechter bezahlten Angestellten begrenzt werden. Außerdem soll eine Art transnationaler Gewerkschaft für prekär Beschäftigte eingerichtet werden. Generell sollen sozialstaatliche Elemente wie Gesundheitsversorgung und Wohnen für alle auf europäischer Ebene eingeführt werden. Durch eine European People’s Bank sollen Investitionen auf einer digitalen Plattform demokratisch gestaltet werden. Steuerflucht soll härter verfolgt werden. Obendrauf sollen sowohl eine europäische Erbschafts- sowie eine Finanztransaktionssteuer eingeführt werden. Der Handel mit Nicht-EU-Staaten soll fairer werden.

Ökologie

Neben diesem sozialen und wirtschaftlichen New Deal soll es auch einen Green New Deal geben. Dieser soll mit öffentlichen Investitionen von 500 Milliarden Euro jährlich die ökologische Transformation der europäischen Wirtschaft vorantreiben. Durch erneuerbare Energien soll das vom IPCC ausgegebene Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf unter 1,5 °C erreicht werden. Dazu sollen die Preise für CO2-Zertifikate erhöht und Fracking verboten werden. EU-weite Tierschutzrichtlinien sollen die bestehenden Regelungen verschärfen, alternative Methoden der Lebensmittelerzeugung im Labor sollen gefördert werden.

Gesellschaft

Ein weiterer Pfeiler des Wahlprogramms stellen gesellschaftliche Forderungen dar. So soll das europäische Asylsystem reformiert werden. Dazu gehören sichere, legale Fluchtwege nach Europa und menschenwürdige Erstaufnahmestellen. Positive Asylbescheide sollen von allen EU-Ländern anerkannt werden, sodass die allgemeine Freizügigkeit gewährleistet ist. Kollaborationen mit der Türkei, Syrien und dem Sudan, die zu Menschenrechtsverletzungen führen, sollen aufgekündigt und durch Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen für Geflüchtete und MigrantInnen auch aus der Zivilgesellschaft ersetzt werden. Weiterhin soll eine europäische Operation zur Seenotrettung gestartet werden, sodass kein Mensch mehr auf dem Weg nach Europa sterben muss.

Genderbasierte Gewalt und Diskriminierung am Arbeitsplatz sollen unterbunden werden. In allen EU-Institutionen soll Genderparität erreicht werden. Reproduktive Rechte sollen gestärkt werden, dazu gehören kostenfreie Verhütung, Hygieneprodukte wie Tampons und Menstruationstassen an öffentlichen Orten sowie der Zugang zu kostenlosen und sicheren Abtreibungsmöglichkeiten. Ehen sollen zwischen jeglichen Partner*innen ermöglicht werden. Alle Menschen sollen Kinder adoptieren dürfen. Nicht-binäre Menschen sollen von allen EU-Staaten anerkannt werden, Verfahren zur Transition sollen frei zugänglich sein.

Auch digital soll sich einiges ändern: Das Internet soll geöffnet (Open Internet), Plattformen demokratisiert, sowie Forschungsergebnisse und Patente weitestgehend zu öffentlichem Eigentum werden. Regierungsinstitutionen sollen digital und transparent arbeiten. EU-weit sollen kulturelle Angebote öffentlich gefördert werden. Mehr noch: Kulturinstitutionen sollen Gemeineigentum werden. Nicht zuletzt sollen durch Kolonialismus nach Europa gekommene Kulturgüter (Raubkunst), soweit möglich, in ihre Herkunftsorte zurückgebracht werden.

Auf dem Weg in den Postkapitalismus?

Betrachtet man den neoliberalen Status quo der EU, muss man feststellen, dass reformatorische Bestrebungen kaum radikaler sein könnten als die hier präsentierten. Dies gilt vor allem für die Bereiche Ökonomie und Migration. Allerdings ist nicht allen Punkten kritiklos zuzustimmen — beispielsweise ließe sich gegenüber der Befürwortung erneuerbarer Energien einwenden, dass emissionsfreie Energien ein besserer Begriff wäre.2 Zudem bleibt die Umsetzung der präsentierten Ideen an einigen Stellen eher vage angedeutet. Wie genau soll zum Beispiel die Genderparität aussehen? Wie lassen sich fernab von Lippenbekenntnissen die Bekämpfung von Gentrifizierung und die Unterstützung von Galerien und Kunststudios vereinbaren? Und wie genau soll die Stärkung der lokalen Ebene rechtlich ausgestaltet sein? Selbstverständlich ist bei einem Manifest aber auch nicht zu erwarten, dass die Lösung sämtlicher Probleme der EU und vielleicht sogar darüber hinaus detailliert beschrieben wird. Dennoch wäre es an einigen Stellen wünschenswert gewesen, Konkreteres als linksliberale Allgemeinplätze à la besserer Tierschutz und nachhaltiges lokales Wirtschaften zu lesen.

Man darf skeptisch sein, ob die hier präsentierten Vorschläge die gigantischen ökonomischen, sozialen und ökologischen Probleme unserer Zeit tatsächlich zu lösen vermögen. Klar ist: Eine Reform der EU allein, sei sie noch so demokratisch und progressiv, wird angesichts globaler Probleme wie dem Klimawandel und extremer Ungleichheit nicht ausreichen. Ein wenig überspitzt lässt sich sagen: Das Manifest ist ein netter sozialdemokratischer Versuch, den mittlerweile mehr als brüchigen keynesianischen Frieden der Nachkriegszeit zwischen Arbeit und Kapital von der nationalen auf eine transnationale Ebene zu heben. Wohlwollender lässt sich sagen: In seinen besten Momenten weist das Manifest über den Kapitalismus hinaus. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich also das Programm des European Spring.

Was hoffen?

Der European Spring wirbt mit dem Hashtag #HopeIsBack. Die Einleitung des Manifestes beginnt gar mit den Worten, der European Spring was formed to restore hope to Europe. Hat man es gelesen, bleibt die Hoffnung, dass die bisher präsentierten Forderungen sich im Laufe der Zeit derart radikalisieren werden, wie es für den menschlichen Fortschritt unabdingbar wäre. Einen Hoffnungsschimmer bietet hier die kürzlich initiierte Progressive International: eine Organisation, gebildet um DiEM25und das US-amerikanische Sanders Institute herum, die bestenfalls die Imperative des kapitalistischen Staatensystems an sich infrage stellen könnte, denn das ist nur international möglich. Hier darf man auf die weitere Entwicklung gespannt sein. Wir werden sie kritisch begleiten — in der Hoffnung, dass sie zur radikalen Transformation der Gesellschaft beitragen wird. Denn diese ist vernünftig, weil sie notwendig ist. Viel Zeit dazu bleibt nicht mehr, machen wir uns an die Arbeit!

 

Fußnoten

  1. Die Bezeichnung New Deal bezieht sich auf ein staatliches Wirtschaftsförderungsprogramm des damaligen US-Präsidenten Franklin Delano Roosevelt als Antwort auf die 1929 begonnene Weltwirtschaftskrise. 
  2. Zur Reduktion des CO2-Ausstoßes ist es sinnvoller, carbon-free energy oder emission-free energy anzustreben als renewable energy. Siehe hierzu beispielsweise folgendes Paper: Harjanne, Atte, and Janne M. Korhonen. Abandoning the Concept of Renewable Energy. Energy Policy, no. 127 (2019): 330-40. Accessed January 28, 2019. https://doi.org/10.1016/j.enpol.2018.12.029
  3.  

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