Methodologie der Ideologiekritik

Die Begriffe „Ideologie“ und „Ideologiekritik“ werden überaus heterogen gebraucht. Wir verwenden den Begriff „Ideologie“ für systematisch zustande gekommene defizitäre Überzeugungen. Ihr defizitärer Charakter besteht darin, dass sie ihrem Inhalt nach als falsch1 gelten und dies von den Akteuren, die die fraglichen Überzeugungen besitzen, nicht erkannt wird. Ihr systematisches Zustandekommen bezieht sich auf die These, dass es bestimmte Faktoren gibt, die diese defizitären Überzeugungen motivieren.2 „Ideologiekritik“ ist das wissenschaftliche Verfahren, das mittels genetischer Erklärungen, also Erklärungen des Zustandekommens (Genese), diese Faktoren zu entdecken versucht. In einem weiteren Sinn untersucht sie zudem die gesellschaftlichen Konsequenzen der Ideologien.
Ideologiekritik als empirische Wissenschaft
Um gesellschaftliche Phänomene zu erklären – und damit das Wissen darüber zu erlangen, wie sie prinzipiell verändert werden könnten – müssen neben systemischen Umständen auch die Handlungen von Akteuren verstanden werden. Menschen handeln aufgrund von Überzeugungen, zu denen auch Werte, moralische oder politische Prinzipien etc. zählen. Es ist offensichtlich, dass diese Überzeugungen defizitär sein können, etwa weil sie inhaltlich falsch sind oder die Akteure falsche Überzeugungen zweiter Ordnung über sie haben – beispielsweise wenn sie eine Überzeugung (erster Ordnung) aufgrund von Fehlschlüssen für gerechtfertigt halten.3 Die Ideologiekritik geht von der Idee aus, dass bestimmte Arten defizitärer Überzeugungen (ob erster oder zweiter Ordnung) systematisch durch gewisse Faktoren motiviert werden können. Diese Faktoren können etwa psychologischer Art sein (wie in der kognitionspsychologischen Bias-Forschung) oder in sozialen Umständen bestehen. In vielen Fällen werden beide Arten von Faktoren zur Erklärung typischer defizitärer Überzeugungen herangezogen: Etwa in der These (und ihrer weitergehenden Ausarbeitung), dass Akteure für reale, lebensweltliche Defizite illusionäre Ersatzbefriedigungen bemühen, etwa die religiöse Vorstellung einer jenseitigen Belohnung für irdisches Leid. Insofern Überzeugungen solcher Art als defizitär gelten, ist es die Aufgabe der Ideologiekritik als interdisziplinärer wissenschaftlicher Disziplin, mittels genetischer Erklärungen zu entdecken, welche Faktoren diese Überzeugungen motivierten.
Ideologiekritik ist also ein empirisches Unternehmen der Erklärung bestimmter Überzeugungen. Als empirisches Unternehmen kann sie keine a priori-Analysen beisteuern: Es ist stets eine offene Frage, ob es für defizitäre Überzeugungen bestimmter Art überhaupt systematisch wirksame Faktoren gibt, und welche Faktoren dies sein könnten. Deshalb ist Ideologiekritik auch nicht per se auf einige bestimmte mögliche Faktoren, nach denen sie fragen kann, festgelegt: Prinzipiell können diese etwa kognitions-, sozial-, entwicklungs- und evolutionspsychologischer, ökonomischer, sozialer oder anderer Art sein. Wir halten es für eine unempirische Verkürzung, zu glauben, man könne „rein theoretisch“ die Ursachen für bestimmte defizitäre Überzeugungen bestimmen. Die Frage, ob gewisse Faktoren für die untersuchten Überzeugungen ursächlich wären, muss durch empirische Überprüfung beantwortet werden. Die Ideologiekritik geht also nicht anders vor als die etablierten empirischen Einzelwissenschaften. Nur auf diesem Wege können valide Theorien über den Zusammenhang zwischen bestimmten Faktoren und defizitären Überzeugungen gewonnen werden. Aus diesem Grunde lehnen wir auch sterile, rein ökonomistische ideologiekritische Erklärungen ab: Sie schließen noch vor jeder empirischen Prüfung more geometrico alle potentiellen Faktoren aus, die nicht ökonomischer Art sind. Ob ausschließlich ökonomische Faktoren zu den tatsächlich wirksamen gehören, muss jedoch empirisch untersucht werden. Wir lehnen also einen Modellplatonismus4 des Verständnisses von Ideologien zugunsten einer an den empirischen Wissenschaften orientierten Herangehensweise ab.
Vermeidung genetischer Fehlschlüsse
Ideologiekritik ist also unerlässlich, um zu erklären, weshalb Menschen defizitäre Überzeugungen bilden, etwa mit faschistischen, nationalistischen, antisemitischen, antiziganistischen, rassistischen, sexistischen, religiösen und anderen Inhalten. Die Defizienz dieser Überzeugungen herauszustellen kann jedoch nicht Aufgabe der Ideologiekritik als einer Disziplin sein, die mit genetischen Erklärungen operiert. Ob eine bestimmte Überzeugung tatsächlich defizitär ist, müssen die Einzelwissenschaften klären (bezüglich defizitärer Rechtfertigungen vor allem auch die Philosophie). Das heißt auch: Nur weil es gute Gründe gibt, zu vermuten, dass eine Überzeugung durch bestimmte Faktoren motiviert wurde, die im Verdacht stehen, systematisch defizitäre Überzeugungen zu motivieren, ist ein Schluss auf die Defizienz der in Frage stehenden Überzeugung noch nicht gerechtfertigt. Auf diese Weise, das heißt durch die Notwendigkeit der separaten Prüfung einer Überzeugung auf ihre Defizienz, vermeidet die Ideologiekritik genetische Fehlschlüsse: Die Vernünftigkeit und Wahrheit einer Position kann niemals allein durch die möglichen Umstände ihres Zustandekommens bestimmt werden. Wissenschaftstheoretisch gesprochen kann Ideologiekritik damit auch keine strikt deterministischen Thesen bezüglich des Zusammenhangs zwischen bestimmten Faktoren und in Frage stehenden möglichen defizienten Überzeugungen aufstellen, sondern nur solche probabilistischer oder normischer Art.5 Ein strikt deterministisches Verständnis von Ideologiekritik verbietet sich außerdem deshalb, weil als potentielle Faktoren für defizitäre Überzeugungen häufig bestimmte Charakteristika des Status quo bemüht werden, denen auch die Ideologiekritikerinnen ausgesetzt sind – sodass sie sich nicht nur mitunter selbst verdächtigen müssten, sondern vor allem bei dem Operieren mit Ideologiekritiken, die einen universellen Charakter haben, Selbstwidersprüche provozieren können. Sprich: Die Ideologiekritikerinnen müssen davon ausgehen, dass sie selbst zumindest hinsichtlich ihrer ideologiekritischen Theorien nicht selbst systematisch defizitären Überzeugungen aufsitzen. Ideologiekritik muss stets zumindest partiell ideologiefreie Erkenntnis unter den gegebenen Bedingungen als theoretische Möglichkeit postulieren, um nicht selbstwidersprüchlich zu werden. Damit werden etwa all diejenigen Ideologiekritiken unplausibel, die von einer totalen Verblendung derjenigen Akteure ausgehen, deren Lebensumfeld etwa durch die entwickelte kapitalistische Wirtschaftsordnung geprägt ist.
Abgrenzung zu Manipulationstheorien
Ideologiekritik ist zudem nicht mit Verschwörungs- und Manipulationstheorien zu verwechseln: Dasseine bestimmte Gruppe gewisse falsche Überzeugungen verbreiten will, reicht noch nicht aus, um zu erklären, weshalb sie damit erfolgreich ist. Letztere Erklärung wäre eine solche, die Aufgabe der Ideologiekritik ist. Soll eine Manipulations- oder Verschwörungstheorie verständlich sein, muss sie also mit Ideologiekritik kombiniert werden, ist jedoch nicht mit ihr identisch. Ebenso müssen rein funktionaleErklärungen von defizitären Überzeugungen problematisiert werden: Während der Ideologiekritik häufig die zusätzliche Aufgabe zugeschrieben wird, die gesellschaftlichen Konsequenzen defizitärer Überzeugungen zu beleuchten, können diese Konsequenzen nicht zur Erklärung des Zustandekommens der fraglichen defizitären Überzeugungen herhalten: So ist es etwa nicht ausreichend, die Genese und Persistenz einer bestimmten defizitären Überzeugung p dadurch zu erklären, dass p im Sinne der herrschenden Klasse sei. Wenn das Interesse der herrschenden Klasse ursächlich für p wäre, so müsste eine Manipulationstheorie bemüht werden – die zwar, wie oben erwähnt, ideologiekritische Erklärungen benötigt, mit diesen jedoch nicht identisch ist. Sagt man stattdessen, das Interesse der herrschenden Klasse sei zwar nicht ursächlich für p, p jedoch dennoch mit diesem Interesse konform, benötigt es offensichtlich keiner Ideologiekritik: In dem Fall, dass p und das Interesse der herrschenden Klasse eigentlich nur in einer Korrelationsbeziehung miteinander stehen und durch eine gemeinsame Ursache, etwa die vorliegenden ökonomischen Bedingungen, verursacht werden, kann zwar eine ideologiekritische Erklärung bemüht werden, doch wird p dann nicht funktional hinsichtlich der Konformität mit dem Interesse der herrschenden Klasse, sondern durch den Einfluss eben jener ökonomischen Bedingungen auf die Überzeugungsbildung erklärt. In anderen Fällen lassen sich funktionale Erklärungen für Ideologien besser als soziologische Zusatzthesen für genetische Erklärungen reformulieren, statt sie mit diesen zu identifizieren: Wenn p also etwa darauf zurückgeführt wird, dass p für die bestehende Ordnung nützlich sei, mag letztere Aussage eher als These über soziale Restriktionen und Anreize bei der Genese und Verbreitung von Überzeugungen formuliert werden. Dass pfür die bestehende Ordnung nützlich ist, ist dann nicht die eigentliche Ursache von p; aber p konnte nur deshalb entstehen und sich verbreiten, weil die abstrakten Kosten (etwa in der Form der Gefahr sozialer Sanktionen) für eine Überzeugung geringer ausfallen, wenn sie der bestehenden Ordnung nützt oder – pauschaler – mit dieser konform geht.
Positionierung
Wir unterstützen interdisziplinäre Ideologiekritik als eine empirische, wissenschaftliche Herangehensweise, die die Handlungen von Menschen und damit zentrale Phänomene der gesellschaftlichen Wirklichkeit dadurch zu erklären versucht, dass Faktoren ausfindig gemacht werden sollen, die systematisch zu defizitären Überzeugungen führen. Der empirische Charakter dieses Verfahrens ist unumgänglich, um zu möglichst validen Theorien zu gelangen, die nicht nur die Gesellschaft und die Geschichte zu verstehen helfen, sondern auch erst die Mittel bereitstellen, eine progressive Politik zu forcieren, die durch institutionelle Vorkehrungen sowie durch entsprechende Bildung und Aufklärung der Genese defizitärer Überzeugungen vorschützen soll, die sonst einer Verbesserung der Gesellschaft im Wege stünden.
Fußnoten
1. Das heißt hier, grob gesprochen, dass es unter Heranziehung des bestverfügbarsten Wissens keinen guten Grund dafür gibt, sie für wahr zu halten und konkurrierende Überzeugungen besser gerechtfertigt sind.
2. „Motivieren“ wird hier gebraucht, um sich nicht darauf festzulegen, dass genetische Erklärungen von Überzeugungen kausalistisch durchgeführt werden müssen, also nur Ursachen, aber keine Gründe benennen. Die Gründe eines Akteurs für eine Überzeugung sind allerdings in einer genetischen Erklärung notwendig, die als Rationalerklärung formuliert wird, d.h. versucht, den Akteur als rational zu verstehen, selbst wenn daraus folgt, dass ein rationaler Akteur nach seinen Möglichkeiten „vernünftige“ Überzeugungen bildet, die dennoch im obigen Sinn als „falsch“ gelten müssen (vgl. Fußnote 1).
3. Überzeugungen zweiter Ordnung sind solche, die Überzeugungen erster Ordnung zum Inhalt haben; Überzeugungen erster Ordnungen sind Überzeugungen, die sich nicht auf andere Überzeugungen, sondern auf weltliche Dinge oder Sachverhalte beziehen.
4. Eine Theorie fällt unter das Verdikt des Modellplatonismus, wenn sie ihre „Sicherheit“ und Geschlossenheit durch fehlenden Bezug zur empirischen Wirklichkeit erkauft. So schließen ökonomistische Ideologietheorien meist im Vorhinein aus, dass andere Faktoren als solche ökonomischer Art als Faktoren für systematisch defizitäre Überzeugungen wirksam sein können. An die Stelle der offenen Frage und empirischen Prüfung, ob es überhaupt für die untersuchten Überzeugungen systematisch wirksame Faktoren gibt und welcher Art diese sein könnten, tritt das Dogma der alleinigen ideologischen Wirksamkeit der Ökonomie.
5. Zwischen wirksamen Faktoren und der Defizienz der durch diese Faktoren motivierten Überzeugungen kann also nur ein Zusammenhang in der Stärke von Wahrscheinlichkeitsaussagen, statistischen Verhältnissen und Normalfallhypothesen („As sind normalerweise – aber eben nicht notwendig – Bs.“) bestehen.