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Faschismus als moderner Antimodernismus

Im populären Sprachgebrauch wird das Wort “Faschismus” oftmals auf eine Art und Weise verwendet, die gleichzeitig pejorativ und mehrdeutig ist. Wenn es einen Begriff gibt, auf den die alltagssprachliche Verwendung des Wortes hindeutet, dann den des Autoritarismus; so definiert etwa das “Webster’s Unabridged Dictionary” den Faschismus folgendermaßen: “Any program for setting up and centralizing an autocratic regime with severely authoritarian politics exercising regulation of industry, commerce and finance, rigid censorship, and forcible oppression of opposition“. Die Gleichsetzung Faschismus – Autoritarismus ermöglicht es rechtsgerichteten Kräften letztendlich, vom sogenannten “Linksfaschismus” zu sprechen. Die Association for the Design of History will im Gegensatz dazu einen präzise definierten, ideologiekritischen Faschismusbegriff verwenden, der eine klare Abgrenzung zwischen “nur” autoritären und dezidiert faschistischen Systemen und Weltanschauungen erlaubt. Auf der Grundlage sozialpsychologischer und geistesgeschichtlicher Theorien soll Faschismus eine Denkform bezeichnen, die sich erstens durch ihre radikale Ablehnung von Moderne und Aufklärung auszeichnet, und zweitens in der Politik auf das Mittel der Massenmobilisierung setzt.

Moderne und Gegenmoderne

Im Zuge der merkantilen und industriellen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts entstand ein neuer Typ von Gesellschaft. Sie war in nie dagewesenem Maße vernetzt und brachte dadurch einen bisher unbekannten Grad an gesamtgesellschaftlicher Interdependenz hervor. Mehr als alle ihr vorangegangenen Organisationsformen des gesellschaftlichen Lebens basiert die bürgerlich-kapitalistische Welt auf abstrakt-unpersönlichen Kräften, die im “Privatleben” der Menschen sichtbar und wirkmächtig sind. Industrialisierung bedeutet immer auch Urbanisierung, und bewirkt damit eine radikale und weitgehende Anonymisierung der sozialen Interaktionen. Auf diese Weise werden die objektiv existierenden Mechanismen des Sozialen zum Teil ihrer ideologischen Verschleierung beraubt und damit als das sichtbar gemacht, was sie sind. Zwei Beispiele: An die Stelle der persönlich-freundschaftlichen Interaktion zwischen dem Bauern und der Besitzerin des Dorfladens tritt der abstrakt-gesellschaftliche Akt des Kaufens von Waren im Supermarkt. An Stelle des persönlichen Frondienstes der Bäuerin gegenüber ihrem Lehnsherren tritt die anonyme und abstrakte Lohnarbeit, die von der Arbeiterin in irgendeiner beliebigen Fabrik geleistet wird. Der Grad der Vergesellschaftung ist im Zuge der industriellen Revolution also massiv gestiegen, die Bedeutung der unmittelbaren Gemeinschaft dagegen hat abgenommen.

Die rapiden wirtschaftlichen Veränderungen des 18. und 19. Jahrhunderts wurden nur durch technische Innovationen möglich gemacht. Dies war auch das Zeitalter der wissenschaftlichen Revolution, eine Blütezeit der Philosophie und die Geburtsstunde der modernen Naturwissenschaften. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sorgten technische Neuerungen dafür, dass jede europäische Generation in einer völlig anderen Lebenswelt aufwuchs als ihre Eltern. Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektrizität, Atomkraft, Internet: In 200 Jahren geschah in den Bereichen Technik und gesellschaftliche Entwicklung mehr, als in den tausend Jahren zuvor.

Diese radikalen gesellschaftlichen und lebensweltlichen Veränderungen beeinflussten das philosophische und politische Koordinatensystem der Menschen nachhaltig. Der Beginn der Klassischen Moderne wird in Anlehnung an das “lange 19. Jahrhundert” des marxistischen Historikers Eric Hobsbawm mit dem Jahr 1789 identifiziert, dem Datum der französischen Revolution. Dieses weltgeschichtliche Großereignis ist das Ergebnis eines neuen Denkens, das der sogenannten Aufklärung. Als letzte Instanz der Rechtfertigung wissenschaftlicher Theorien und der Begründung moralischer Normen sollte an die Stelle von Tradition und Religion die Vernunft treten. Eine Vielzahl überlieferter Gewissheiten und kultureller Normen wurde hinterfragt, die Legitimität von Adelsherrschaft und kirchlicher Dominanz mit Hilfe philosophischer Argumente in Frage gestellt. Die auf diesen Ideen basierende französische Revolution war nichts anderes als der historische Moment, in dem sich Bürgertum und aufklärerische Philosophie gewaltsam gegen die alte Welt der traditionellen Adelsherrschaft durchsetzten. In der Revolution gab es dabei verschiedene Kräfte, deren Ziele sich zum Teil deutlich voneinander unterschieden. Dies offenbart eine grundsätzliche Unterdeterminiertheit des modernen Denkens: Wissenschaftlicher Rationalismus und ethischer Universalismus3 haben bereits im revolutionären Frankreich Menschen dazu inspiriert, feministische, radikaldemokratische, frühsozialistische und antirassistische Ansätze zu entwickeln, die im Laufe der klassischen Moderne weiter ausformuliert wurden. Die Sklaverei zum Beispiel wurde durch die Jakobiner abgeschafft, die Idee unveräußerlicher Menschenrechte kurz zuvor formuliert und kodifiziert. Andererseits wurden die gleichen modernistischen Ideen dazu verwendet, die Unterdrückung von Frauen und nichtweißen Personen “wissenschaftlich” zu legitimieren und die hierarchische Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft als ethisch und zweckmäßig auszuweisen. Die Moderne leitete ein Zeitalter der Extreme (Hobsbawm) ein, in dem größere Freiheit, aber auch größere Verbrechen möglich waren als je zuvor.

Sozialismus und Liberalismus sind trotz ihrer gravierenden Unterschiede politische Programme der Moderne, weil sie den Anspruch erheben, das Glück der Menschen auf der Grundlage von Wissenschaft und rationaler Ethik realisieren. In einem weiteren Sinne sind alle politischen Programme nur als Folgeerscheinungen der Moderne denkbar, weil die Entstehung des politischen Feldes Resultat des Denkens und der Materialität von 1789 ist. Die technischen Innovationen des 19. Jahrhunderts haben dazu beigetragen, den modernistischen Zukunftsoptimismus noch zu steigern. Typisch modern sind der Glaube an Fortschritt und Veränderung sowie die damit verbundene Zuversicht in Bezug auf das menschliche Vermögen, komplexe Sachverhalte zu verstehen und die Welt auf der Grundlage dieses Wissens zum Nutzen Aller zu verändern. Aber auch das Erkennen der Grenzen von Wissenschaft und Sprache sind als selbstkritisches Element in der Moderne verankert; besonders in der “Spätmoderne” ab 1914 nahm diese konstruktive Selbsthinterfragung in Kunst und Philosophie eine wichtige Rolle ein. Diese war auf der theoretischen Ebene bereits bei Hume und Kant voll entwickelt.

Die Moderne ist jedenfalls nicht notwendigerweise identisch mit der universellen gesellschaftlichen Emanzipation der Menschheit (Kommunismus), sie hat aber das politische Feld erschaffen, in dem diese Emanzipation überhaupt erst denkbar und möglich ist. Konkret formuliert: Sie hat in Form von Wissenschaft, Industriegesellschaft und Arbeiterinnenklasse die Werkzeuge hervorgebracht, die für die Errichtung einer freiheitlichen und den menschlichen Bedürfnissen entsprechenden Gesellschaft erforderlich sind. Nicht jeder Modernismus ist kommunistisch, aber jeder (ernsthafte) Kommunismus ist modernistisch.

In dem Maße, in dem das Projekt der Moderne als (meta-)weltanschauliches Programm erkennbar und sichtbar wird, kann es als Feindbild identifiziert und abgelehnt werden. Der Antimodernismus tritt nur innerhalb des Koordinatensystems der Moderne auf, da er auf dieses reagiert und zumindest der Form nach als politische bzw. philosophische Weltanschauung modernen Typs auftritt. Inhaltlich betrachtet handelt es sich aber um ein Denken, das die Kernelemente des Modernismus, Vernunftglaube und Universalismus, als korrumpierende Übel bezeichnet und statt dessen die Rückkehr in eine idyllisch verklärte Vergangenheit einfordert.

Merkmale des Faschismus

Das Hauptmerkmal des Faschismus ist die Ablehnung des Rationalismus und damit verbunden ein prinzipieller Relativismus. In den deutschsprachigen Medien hat sich für diese Tendenz der Begriff der “postfaktischen Gesellschaft” durchgesetzt. FaschistInnen sprechen der Vernunft jegliche Autorität ab und werfen der Moderne maßlose Selbstüberschätzung vor: Was die ModernistIn als objektive Wahrheit oder objektive Moral betrachtet, sei nur eine Wahrheit von vielen. Hinter dem Faschismus steckt also ein grundsätzlicher Zweifel an den Fähigkeiten des Menschen, die Welt richtig und objektiv zu erkennen sowie sie planvoll zu verändern.

Mit der Ablehnung der “kalten Rationalität” der Moderne geht eine Hervorhebung des Emotionalen einher. Nicht mehr Argumente und empirische Daten sollen über richtig und falsch bestimmen, sondern das “gesunde Volksempfinden“. Da eine objektive Wahrheit im faschistischen Weltbild nicht existiert und das Denken an sich diskreditiert ist, wird der subjektiven Empfindung der Menschen äußerstes Gewicht eingeräumt. Die wissenschaftliche Methode, die ihren Gegenstand distanziert von Außen betrachtet, geht für den Faschismus am Wesentlichen vorbei, der subjektiven Erfahrung der Menschen, ihrer Gefühlswelt. Die Einbettung bzw. “Verwurzelung” der Menschen in kulturelle Lebenswelten wird gegen die ethischen und staatsbürgerlichen Abstraktionen des Aufklärungsdenkens in Stellung gebracht. Aus dieser Position heraus wird dann beispielsweise die Verfolgung Homosexueller eingefordert, da die Homosexualität dem de facto Empfinden der Mehrheit, das keiner argumentativen Legitimation bedürfe, widerspricht.

“Unser Glaube an Deutschland ist unerschütterlich, unser Wille unbändig! Wille und Glaube sind so inbrünstig vereint, da kann auch der Himmel seine Zustimmung nicht versagen. Und ich erwarte von jedem Deutschen, der Anstand und Charakter hat, dass er in dieser Kolonne mitmarschiert!” – Adolf Hitler im Jahre 1936

Da der Faschismus im Gegensatz zu den politischen Theorien der Moderne nicht behaupten kann, seine Ziele seien objektiv moralisch und vernünftig, muss er sich auf andere Art und Weise rechtfertigen. An Stelle einer wissenschaftlich-rationalen Begründung tritt eine “existenzialistische” Betonung des Willens in Anlehnung an die Philosophie Nietzsches: Unter hypothetisch gleichwertigen Alternativen hat sich die Faschistin für bestimmte Werte und Ziele entschieden und versucht dann, diese mit voller Vehemenz gesellschaftlich durchzusetzen. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, zu glauben, dass grade die deutsche Kultur die Überlegene sei oder gerade der salafistische Islam die richtige Religion darstellt, doch trotzdem propagieren NS und “Islamischer Staat” den Einsatz äußerster Kraft bei dem Versuch, ihre “Utopien” zu realisieren. Dies ist mit dem grundsätzlichen Relativismus der faschistischen Ideologie völlig vereinbar. Aus der Verleugung einer objektiven Wahrheit folgt nämlich keineswegs die Pflicht zur Toleranz für fremde Positionen und Kulturen. Im Gegenteil, die Toleranz selbst ist ein moralischer Wert und könne daher keine objektive, transkulturelle Geltung beanspruchen. Nicht umsonst heißt einer der berühmtesten NS-Propagandafilme “Triumph des Willens“.

Der Faschismus propagiert in vielen Fällen die Überlegenheit des organisch Gewachsenen gegenüber dem bewusst Geplanten und sieht die “lebenden Traditionen” sowie die Identität der Menschen durch den Universalismus der Moderne („Gleichmacherei“) bedroht. Während dieser Universalismus allgemeingültige Antworten auf ethische und politische Fragen formulieren will, beruft sich der Faschismus auf das jeweils Besondere der “eigenen” Kultur oder Religion. Die Ablehnung von Zivilisation und Gesellschaft zu Gunsten von Kultur und Gemeinschaft ist typisch für den offensiven Antimodernismus.

Was den Faschismus von anderen Formen des antimodernen Denkens wie etwa dem Postmodernismus unterscheidet, ist die zentrale Rolle der Massenmobilisierung als politisches Werkzeug. Hier tritt auch klar ein fundamentaler Unterschied zwischen faschistischen und autoritären Regimes zu Tage: Während die autoritäre Diktatur daran interessiert ist, die Bevölkerung politisch zu demobilisieren, setzt der Faschismus auf die Massenmobilisierung im Namen der kollektiven Identität. Die Ästhetik spielt dabei eine herausragende Rolle, gerade deswegen, weil faschistische Ideologien im Gegensatz zu Kommunismus und Liberalismus nicht durch inhaltliche Argumente punkten können. Ein mytho-poetischer Weltzugang, der sich durch grandiose Rhetorik, romantische Aufopferungsideale und kollektives Erleben auszeichnet, ist die psychosoziale Grundlage einer jeden faschistischen Massenbewegung.

Am Ende unserer Ausführungen über die Merkmale des Faschismus sei auch auf ein Zitat Benito Mussolinis hingewiesen, das aufgrund seiner Ehrlichkeit und Klarheit unsere Beachtung verdient und das oben Gesagte bestätigt:

“Alles, was ich in diesen letzten Jahren getan und gesagt habe, ist Relativismus aufgrund von Intuition. Wenn Relativismus Verachtung für feste Kategorien und diejenigen, die die Träger der objektiven und unsterblichen Wahrheit zu sein behaupten, bedeutet, […] dann gibt es nichts relativistischeres als die faschistische Haltung und Aktivität. […] Ausgehend von der Tatsache, dass alle Ideologien den gleichen Wert haben, dass alle Ideologien bloße Fiktionen sind, kommt der moderne Relativist zu der Einsicht, dass jeder das Recht hat, seine eigene Ideologie zu erschaffen und zu versuchen sie mit aller Energie, die ihm zur Verfügung steht, durchzusetzen.” – Benito Mussolini

Das Feindbild

Faschistische Bewegungen wie der Nationalsozialismus oder der “Islamische Staat” konstruieren nicht nur eine kollektive Identität für ihre AnhängerInnen (Deutsche, rechtgläubige Muslime), sondern auch diverse Gegenidentitäten. Andere Ethnien oder Religionen werden als Feindfiguren stilisiert und sollen mit allen Mitteln bekämpft werden. Die Herstellung der eigenen kollektiven Identität wird erkauft durch die Ausgrenzung der Anderen. Diese werden zu Nicht-Menschen, denen gegenüber jede Behandlung legitim ist. Hier sei nur an die Versklavung “slavischer Untermenschen” und “jesidischer Teufelsanbeter” durch den NS bzw. IS erinnert.

Der eigentliche Hauptfeind des Faschismus steht jedoch an ganz anderer Stelle. Es ist der unbändige Hass auf den Modernismus, der den Faschisten antreibt. In bestimmten Menschengruppen (Jüdinnen, die urbane Bevölkerung, Liberale, SozialistInnen, und heute auch die Generation der “Millenials“) wird dieses zunächst abstrakte Feindbild personifiziert. Ihnen wird auf projektive und verschwörungstheoretische Art und Weise unterstellt, die Einheit der Nation bzw. Religion durch ihren unsittlichen Lebensstil untergraben zu wollen. In diesem Sinne sprechen etwa Putinismus und europäischer Rechtspopulismus von der “Verschwulung” Europas. Den “dekadenten Kosmopoliten” wird vorgeworfen, mit den Mächtigen im Bunde zu sein und alle traditionellen, für den “kleinen Mann” wichtigen sozialen Verhältnisse angreifen zu wollen: Geschlechterverhältnis, nationale Kultur, religiöse Normen, etc. Der Faschismus richtet sich also direkt gegen die Kräfte der Emanzipation, gegen die urbane Bevölkerung, gegen die linke Intelligenzia, gegen den Universalismus, gegen Feminismus und “das Fremde“.

Ursachen: Einleitende Bemerkungen

Ein genauer Blick auf die Merkmale des Faschismus offenbart, dass er bei der Normalbevölkerung westlicher Nationen einen gewissen Anklang findet. Ein Beispiel dafür liefert James Cameron’s Bockbuster Avatar, ein Film, dessen Botschaft in vielerlei Hinsicht faschistisch ist: Die Menschen, die sich auf ihre Technologie verlassen, werden als kaltherzige und profitgierige Antagonisten dargestellt, während die naturverbundenen “Na’vi“, verwurzelt in ihrer tradtionellen Kultur, als positives Gegenbeispiel dienen. Dieses unverkennbar antimoderne Narrativum hat kaum Kritik hervorgerufen, weil es von großen Teilen der Bevölkerung zumindest auf einer semi-bewussten, affektiven Ebene geteilt wird. Die Konsequenz dieses Denkens besteht darin, dass das einzige zukunftsweisende politische Projekt, die Verwirklichung der Glücksversprechen der Moderne durch den Kommunismus, zu Gunsten von identitärem Parikularismus über Bord geworfen wird.

Wollen wir eine bestimmte Ideologie bekämpfen, müssen wir ihr nicht nur inhaltlich widersprechen, sondern auch ermitteln, wie sie entsteht. Dieses Verstehen ist in keiner Weise eine Legitimation der betreffenden Ideologie, sondern vielmehr eine intellektuelle Waffe, aus der sich eine Technologie der gezielten sozialen Intervention ableiten lässt. Daher werden wir uns im Folgenden mit den Ursachen des faschistischen Denkstils beschäftigen.

Ursachen: Enttäuschung und Kränkung

Der anfangs in vielerlei Hinsicht naive Fortschrittsglaube der Moderne wurde durch verschiedene historische Ereignisse und Entwicklungen massiv herausgefordert. Wo von universellen Menschenrechten die Rede war, ging es de facto nur um die Interessen von Männern, Weißen und Bourgeois – und wo das Projekt der Moderne wirklich ernst genommen wurde, scheiterte es an materiellen Kräfteverhältnissen und lokalen Besonderheiten. Einige Beispiele für die Schattenseiten der Moderne sind der Kolonialismus, der unter dem Deckmantel aufklärerischer Ideen unzählige Menschen unterjochte, das industrielle Massensterben im Ersten Weltkrieg, das Scheitern des hoffnungsvollen Versuchs “Oktoberrevolution” und die Verschmutzung der Umwelt durch moderne Technik. Liberalismus und Sozialismus konnten ihre Versprechen nicht einhalten und diskreditierten damit die Grundidee der Moderne: Den Glauben an die rationale Planung in der Politik. Diese Enttäuschungen in Bezug auf die Politik des Modernismus entfalten in Form von erlerntem historischem Wissen bereits eine massive Wirkung, die sich in Bezug auf Menschen, die sie direkt miterlebt haben oder in einem Staat leben, in dessen jüngerer Geschichte sie stattgefunden haben, nochmals deutlich verstärkt. Auf der Grundlage dieser Hypothese lässt sich erklären, warum faschistische Kräfte gerade in Osteuropa und der ehemaligen DDR so erfolgreich waren bzw. sind: Die Populationen der Länder des ehemaligen “Ostblocks” haben zunächst das Scheitern des real existierenden Sozialismus miterlebt, und wurden kurz darauf auch vom liberal-demokratischen System enttäuscht, das an Stelle von Freiheit und Wohlstand eine Verschärfung der sozialen Probleme mit sich brachte.

Das Phänomen der Enttäuschung ist nicht nur auf der historischen Ebene wirksam, sondern existiert auch in Bezug auf Kunst, Sozialwissenschaft und Philosophie. Das konsequente und rationalistische Denken der Moderne hat erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Probleme zu Tage gefördert, die als geistesgeschichtliche Kränkungen wirkten. Die Erkenntnis der theoretischen Philosophie, nach der kein sicheres Wissen (wohl aber gerechtfertigte Urteile) möglich ist, sowie der Zweifel an den Möglichkeiten sprachlicher Kommunikation sind zwei Beispiele dafür. Auch psychologische Theorien nahmen den Charakter von Kränkungen an, implizieren sie doch, der Mensch sei nicht “Herr im eigenen Haus” und damit durch Kräfte bestimmt, die oftmals nicht als rational beeichnet werden können. Das trifft sowohl auf die Psychoanalyse Freuds wie auf große Teile der zeitgenössischen akademischen Psychologie zu. Konfrontiert mit derartigen Kränkungen besteht die Gegenreaktion vieler Menschen darin, eine grundlegende Skepsis gegenüber Wissenschaft und Moderne zu entwickeln.

Ursachen: Das Bedürfnis nach Identität

Während die bisher untersuchten Ursachen für die Popularität des Faschismus an der gesellschaftlichen Ebene ansetzen, wollen wir uns nun mit der individuellen Psyche befassen. Hier ist zunächst zu erwähnen, dass der Faschismus das Bedürfnis nach Identität effektiv bedienen kann. Es kann sein, dass es sich dabei um ein universelles menschliches Bedürfnis handelt, gleichzeitig wird aber nach genauerer Betrachtung schnell klar, dass dieses Bedürfnis durch bestimmte gesellschaftliche Umstände massiv verstärkt wird. Gerade in Zeiten der Krise und Unsicherheit nimmt das Bedürfnis nach stabilen Identitäten zu; diese werden aber um den Preis der Vernunft und Humanität erkauft.

Ursachen: Das Bedürfnis Nach Identität

Es handelt sich um eines seiner bekannteren Zitate: “Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt“. Marx macht darauf aufmerksam, dass das Denken der Menschen massiv von den materiellen Verhältnissen abhängig ist, innerhalb derer sie leben und aktiv sind. Jede Lebenswelt zwingt ihren Bewohnern bestimmte Verhaltensweisen auf, befördert bestimmte Denkstile und begünstigt spezifische soziale Interaktionen, während sie andere erschwert. Dies ist mit dem Begriff der Sozio-Materialität gemeint.

Wellen der technischen und sozialen Entwicklung, etwa im Zuge der Industrialisierung, oder, um aktuellere Beispiele zu nehmen, der Digitalisierung und Robotisierung, erfassen nicht alle Erdregionen und Milieus gleichzeitig und mit gleicher Intensität. Statt dessen gibt es in den allermeisten Fällen Zentren des Fortschritts, denen unterentwickelte Zonen gegenüberstehen, wobei sich diese Rollen im Laufe der Geschichte oftmals ändern. Die Welt ist jedenfalls nicht homogen, sie kann grob in Zentrum und Peripherie (Umfeld, Umland) unterteilt werden. Das Zentrum, das technische und/oder soziale Neuerungen hervorbringt, kann die dadurch entstehenden Änderungen der Lebenswelt gut verarbeiten, während die sozialen Räume der Peripherie, also der unterentwickelten Zonen, durch die gleichen Neuerungen stärker destabilisiert werden. Dafür können im Prinzip zwei Gründe genannt werden: Erstens können die BewohnerInnen des Zentrums die Entwicklung und schrittweise Einführung von Neuerungen in Echtzeit beobachten, was die Innovationen weniger fremd erscheinen lässt, während die gleichen Neuerungen für die Bewohnerinnen der Peripherie als äußere Kräfte wahrgenommen werden, die quasi “über sie kommen”, ohne dass jemand danach gefragt hätte. Zweitens ist der Charakter der Innovationen, seien sie technischer oder sozialer Natur, oftmals zumindest teilweise auf die speziellen Bedürfnisse, die Lebensweise und die Probleme der ZentrumsbewohnerInnen zugeschnitten, so dass Menschen, die in der Peripherie leben, weniger davon profitieren können. Die Innovationen des Silicon Valley sind auf die Lebensrealität der gebildeten und wohlhabenden Kalifornierinnen zugeschnitten, nicht auf Farmer im mittleren Westen oder andalusische ViehhirtInnen. In Anbetracht der problematischen Beziehung der Peripherie zu Innovation und Technik verwundert es nicht, dass sich oftmals gerade dort ein antimodernes Denken entwickelt. Da das Zentrum zur Zeit in den “westlichen Industrienationen” zu verorten ist, äußert sich der Faschismus in Form einer Kritik an “westlichem Kulturimperialismus”; ein prominentes Beispiel dafür sind die Äußerungen des bekennenden Heideggerianers und Kreml-Philosophen Alexandr Dugin.

Von besonderer Bedeutung sind die Unterschiede zwischen Stadt und Land. Die Stadt ist der idealtypische Raum der Moderne. Sie zeichnet sich durch einen hohen Grad der Vergesellschaftung und damit durch eine weitestgehende Anonymität vieler sozialer Interaktionen aus. Das Leben in der Stadt sichert den Zugang zu einer Vielzahl von Bildungsinstitutionen und erlaubt es ihren Bewohnerinnen zugleich, den eigenen sozialen Zirkel auf der Grundlage eigener Interessen und Vorlieben zu bilden. Auf dem Land dagegen ist der Zugang zu Theatern, Universitäten, Bibliotheken und Veranstaltungsräumen stark eingeschränkt, während der soziale Konformitätsdruck deutlich stärker ist: In einem Dorf leben zu wenige Menschen, als dass es sich individuelle Personen leisten könnten, in Bezug auf ihre sozialen Kontakte besonders wählerisch zu sein. Die ländliche Lebenswelt ist schlicht und einfach weniger modern; daher fallen die Abwehrreaktionen gegen die Idee der Moderne auf dem Lande auch generell deutlich stärker aus als in urbanen Räumen. Dies kann vielerorts empirisch bestätigt werden: Fast alle faschistischen Parteien erzielen in ländlichen Regionen bessere Ergebnisse als in Städten, wobei Kleinstädte für den Faschismus immer noch empfänglicher sind als Metropolen.

Zuletzt lässt sich noch sagen, dass sozio-materiell betrachtet die Klasse des Kleinbürgertums eher zu faschistischem Denken neigt als andere Klassen. Die individuelle Form des Wirtschaftens, die das Kleinbürgertum praktiziert, steht im Gegensatz zu den deutlich abstrakteren Prozessen, mit denen etwa die Fabrikarbeiterin oder der CEO konfrontiert sind. Zusätzlich ist die kleinbürgerliche Klasse von zwei Seiten bedroht: Einerseits durch das Proletariat, von dem es sich elitär abgrenzen will, und andererseits durch die Bourgeoisie, deren Großunternehmen die wirtschaftliche Grundlage des Kleinbügertums unterminieren könnten. Diese Eigenschaften erklären eine gewisse Affinität des klassischen Kleinbürgertums gegenüber dem Faschismus.

Herrscht eine polarisierte gesellschaftliche Situation, in der sowohl die radikale Linke, als auch der Faschismus signifikante Teile der Bevölkerung überzeugen können, dann wird auch eine Unterstützung des Faschismus durch das höhere Bürgertum wahrscheinlich; in den meisten historisch dokumentierten Fällen faschistischer Machtergreifungen erfreuten sich faschistische Organisationen der aktiven Unterstützung bestimmter Teile der Bourgeoisie, die sich davon in erster Linie die Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung und eine Lohnpolitik in ihren Sinne erhofften. Als Beispiel kann die finanzielle Unterstützung der NSDAP durch führende Großbanken und Industrielle in der Weimarer Republik angeführt werden.

Positionierung

Wir positionieren uns deutlich gegen Antimoderne und Faschismus, und bekennen uns zu einem Neomodernismus, der Rationalität und Universalismus konsequent einfordert.

Der Faschismus kann mittelfristig gesehen vor allem durch die Rehabilitation der Ideen von Aufklärung und Moderne bekämpft werden. Dieser Prozess muss zum einen durch Theorie und Öffentlichkeitsarbeit vorangetrieben werden, ist aber letztendlich davon abhängig, dass emanzipatorische Kräfte praktische Erfolge erzielen und die Lebenssituation der Menschen merklich verbessern. Nur auf diese Weise ließe sich die Verständlichkeit und positive Veränderbarkeit der Welt demonstrieren und damit die Anziehungskraft des Faschismus reduzieren. Wenn der größte Teil der Menschen im Alltag bemerkt, dass Abstraktion, Wissenschaft und Technik auch zu ihren Gunsten eingesetzt werden können, dass Komplexität also nicht immer Kontrollverlust bedeutet, sondern auch rationale Selbstbestimmung ermöglicht, dann ist ein Faschismus auf Massenbasis nicht mehr möglich.

Es ist darüber nachzudenken, ob eine Verschärfung der Situation und eine erhöhte Massenmilitanz unter den momentanen Bedingungen nicht vor allem dem Lager der Faschisten Zulauf verschaffen würde. Wenn die beständige Zunahme der globalen Surplus-Bevölkerung nicht aufgehalten werden kann, sieht es für das Schicksal der Menschheit nicht gut aus. Aus der Sicht der Linken wäre es also von Vorteil, die Belastungen durch die kapitalistische Krise zu reduzieren, wenn dies irgendwie möglich ist – so gewinnen wir Zeit für den Aufbau unserer Strukturen.

 

Fußnoten

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