#Beschleunigungsmanifest für eine akzelerationistische Politik
von Nick Srnicek und Alex Williams
aus dem Englischen von Samir Sellami und Frederik Tidén

01 Einleitung: Die Zustände
1. Am Beginn des zweiten Jahrzehnts des einundzwanzigsten Jahrhunderts sieht sich die globale Zivilisation mit einer ganz neuen Art von Katastrophe konfrontiert. Die bevorstehenden Apokalypsen machen die Normen und Organisationsstrukturen unserer Politik, die in der Geburt der Nationalstaaten, dem Aufstieg des Kapitalismus und einem zwanzigsten Jahrhundert der beispiellosen Kriege geprägt worden sind, zu einem Witz.
2. Am bedeutendsten ist der Zusammenbruch des Weltklimas. In absehbarer Zeit ist der Fortbestand der derzeitigen Weltbevölkerung in Gefahr. Obwohl das die entscheidende der Bedrohungen ist, die auf die Menschheit zukommt, gibt es daneben eine Reihe geringerer, aber potentiell ähnlich destabilisierender Probleme, die sich damit überschneiden. Die endgültige Erschöpfung von Ressourcen, besonders der Wasser- und Energiereserven, stellen massenhaften Hungertod, den Kollaps ökonomischer Modelle und neue heiße und kalte Kriege in Aussicht. Die andauernde Finanzkrise hat Regierungen dazu gebracht, sich in die lähmende Todesspirale aus Sparpolitik, Privatisierung des Sozialstaats, Massenarbeitslosigkeit und stagnierenden Löhnen zu begeben. Die zunehmende Automatisierung in den Produktionsprozessen, auch der „geistigen Arbeit“, zeugt von der langfristigen Krise des Kapitalismus, die es ihm bald unmöglich machen wird, die derzeitigen Lebensstandards, sogar die der ehemaligen Mittelschicht des globalen Nordens, zu halten.
3. Im Gegensatz zu diesen sich immer weiter beschleunigenden Katastrophen ist die heutige Politik von dem Unvermögen befallen, neue Ideen und Organisationsformen zur notwendigen Umgestaltung unserer Gesellschaften, die sich den bevorstehenden Vernichtungen stellen und sie lösen müssen, hervorzubringen. Während die Krise an Stärke und Geschwindigkeit gewinnt, verkümmert die Politik und zieht sich zurück. Mit dieser Lähmung der politischen Vorstellungskraft hat man die Zukunft gecancelt.
4. Seit 1979 ist der Neoliberalismus die weltweit vorherrschende politische Ideologie, die in verschiedenen Varianten bei allen führenden Wirtschaftsmächten vorkommt. Trotz der tiefgreifenden strukturellen Herausforderungen, die die neuen globalen Probleme, besonders die Kredit-, Finanz- und Haushaltskrisen seit 2007-8, für ihn darstellen, ist die einzige Entwicklung, die stattgefunden hat, eine weitere Vertiefung neoliberaler Programme. Diese Fortsetzung des neoliberalen Projekts, oder Neoliberalismus 2.0, hat eine neue Runde struktureller Anpassungen eingeläutet, die in der Bestärkung des neuartigen und aggressiven Eindringens der Privatwirtschaft in das, was von sozialstaatlichen Einrichtungen und Leistungen noch übrig bleibt, besonders auffällig ist. Dies geschieht ungeachtet der unmittelbar negativen wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen einer solchen Politik und der auf lange Zeit unüberwindbaren Schranken, die die neuen globalen Krisen setzen.
5. Dass die Kräfte der rechtskonservativen Regierungen, NGOs und Unternehmen den Neoliberalismus weiter vorantreiben konnten, ist zumindest teilweise die Folge der anhaltenden Lähmung und Ineffizienz dessen, was von der Linken übrig geblieben ist. Dreißig Jahre Neoliberalismus haben die meisten linksorientierten Parteien allen radikalen Denkens beraubt, ausgehöhlt und ohne Mandat der Bevölkerung zurückgelassen. Bestenfalls haben sie auf unsere gegenwärtigen Krisen mit dem Ruf nach einer Rückkehr zu keynesianischer Volkswirtschaft reagiert – ungeachtet der Anzeichen, dass die Bedingungen, die das Auftreten unserer Nachkriegssozialdemokratie ermöglicht haben, nicht mehr existieren. Wir können nicht per Dekret zurück zu fordistischer massenindustrieller Arbeit, falls wir das überhaupt können. Selbst die neosozialistischen Regimes der bolivarischen Revolution Südamerikas ermutigen zwar durch ihre Fähigkeit, den Glaubenssätzen des zeitgenössischen Kapitalismus zu widerstehen, enttäuschen aber mit ihrer Unfähigkeit, eine Alternative zu entwickeln, die über den Sozialismus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinausgeht. Die von den Veränderungen des Neoliberalismus systematisch geschwächten Gewerkschaften sind institutionell verknöchert und können – bestenfalls – die neuen strukturellen Anpassungen nur noch leicht mildern. Aber ohne systematischen Ansatz zum Aufbau einer neuen Wirtschaftsordnung und ohne die strukturelle Solidarität, solche Veränderungen durchzudrücken, bleiben die Gewerkschaften zur Zeit ziemlich machtlos. Die neuen sozialen Bewegungen, die seit dem Ende des Kalten Kriegs entstanden sind und in den Jahren nach 2008 einen Wiederaufschwung erlebt haben, sind ähnlich unfähig, eine neue politisch-ideologische Vision zu formulieren. Stattdessen verwenden sie sehr viel Energie auf basisdemokratische Prozesse und affektive Selbstaufwertung statt auf strategische Wirksamkeit. Dabei fördern sie oft Varianten eines neo-primitivistischen Lokalismus zu Tage, so als könne man sich der abstrakten Gewalt des globalisierten Kapitals mit der fadenscheinigen und flüchtigen „Authentizität“ der unmittelbaren Gemeinschaft widersetzen.
6. In Ermangelung einer radikal neuen sozialen, politischen, organisatorischen und ökonomischen Vision werden die vorherrschenden Kräfte der Rechten allen Beweisen zum Trotz ihre engstirnigen Vorstellungen weiter vorantreiben können. Im besten Fall kann die Linke vorübergehend die schlimmsten Angriffe zum Teil abwehren. Aber das heißt, Ruderin sein gegen einen letztlich unwiderstehlichen Strom. Eine neue globale linke Hegemonie aufzubauen, bedeutet die Bergung verlorener möglicher Zukünfte, ja, die Bergung der Zukunft überhaupt.
02 Zwischenspiel: Die Beschleunigungen
1. Wenn ein System mit der Idee der Beschleunigung in Verbindung gebracht worden ist, dann der Kapitalismus. Der grundlegende Stoffwechsel des Kapitalismus verlangt Wirtschaftswachstum, wobei der Wettbewerb zwischen einzelnen kapitalistischen Einheiten wachsende technologische Entwicklungen in Bewegung setzt, um Wettbewerbsvorteile zu ergattern. Dies alles wird von sozialen Verwerfungen begleitet. Die ideologische Selbstdarstellung des neoliberalen Kapitalismus behauptet, dass er Kräfte kreativer Zerstörung entfesselt und so sich immer weiter beschleunigende technische und soziale Innovationen freisetzt.
2. Am scharfsinnigsten eingefangen hat dies der Philosoph Nick Land in seinem kurzsichtigen, aber bestechenden Glauben, dass das kapitalistische Tempo allein den globalen Umschlag in eine beispiellose technologische Singularität bewirken könne. In dieser Vorstellung vom Kapital kann der Mensch am Ende ausrangiert werden, als ein bloßes Hindernis für eine abstrakte planetare Intelligenz, die sich aus zusammengebastelten Bruchstücken ehemaliger Zivilisationen selbst aufbaut. Allerdings verwechselt Lands Neoliberalismus Geschwindigkeit mit Beschleunigung. Wir mögen uns schnell bewegen, aber nur innerhalb eines streng definierten Satzes kapitalistischer Parameter, die selbst nie schwanken. Wir erleben nichts als die ansteigende Geschwindigkeit in einem beschränkten Horizont, ein simples, hirntotes Vorpreschen anstelle einer Beschleunigung, die auch navigiert, die ein experimenteller Entdeckungsprozess in einem universellen Möglichkeitsraum ist. Die letztere Form der Beschleunigung halten wir für die wesentliche.
3. Schlimmer noch, wie Deleuze und Guattari erkannt haben, reterritorialisiert das kapitalistische Tempo mit der einen Hand, was es mit der anderen deterritorialisiert. Dem Fortschritt werden Rahmenbedingungen wie Mehrwertproduktion, eine stille Reserve von Arbeitskräften und frei bewegliches Kapital aufgezwungen. Die Moderne wird reduziert auf statistische Messungen des Wirtschaftswachstums und soziale Innovationen werden von kitschigen Überbleibseln unserer gemeinschaftlichen Vergangenheit verkrustet. Deregulierung à la Thatcher und Reagan sitzt bequem neben rückständigen viktorianischen Vorstellungen von Familie und Religion.
4. Eine tiefere Spannung innerhalb des Neoliberalismus liegt zwischen seinem Selbstbild als Vehikel der Moderne, als Synonym von Modernisierung und dem Versprechen einer Zukunft, die er von Natur aus nicht liefern kann. Tatsächlich hat der fortschreitende Neoliberalismus, anstatt individuelle Kreativität zu ermöglichen, eher dazu tendiert, geistigen Erfindungsreichtum auszulöschen, zugunsten am Fließband produzierter gescripteter Interaktionen, die an globale Wertschöpfungsketten und neo-fordistische Produktionszonen in Fernost gekoppelt sind. Ein verschwindend kleines Kognitariat, eine Elite aus Geistesarbeitern, schrumpft mit jedem Jahr – und das zunehmend, weil die algorithmische Automatisierung sich durch die Sphären der affektiven und intellektuellen Arbeit frisst. Der Neoliberalismus war, obwohl er sich als eine notwendige historische Entwicklung verkauft, tatsächlich nur ein Mittel unter vielen, die Wertkrise der siebziger Jahre abzuwehren. Zwangsläufig bedeutete das die Sublimierung der Krise und nicht ihre endgültige Überwindung.
5. Karl Marx bleibt, neben Land, der beispielgebende Vordenker des Akzelerationismus. Entgegen der allzu vertrauten Kritik und sogar entgegen des Verhaltens einiger zeitgenössischer Marxisten müssen wir uns daran erinnern, dass Marx selbst die fortschrittlichsten theoretischen Werkzeuge und empirischen Daten, die ihm zugänglich waren, in dem Bestreben benutzte, seine Welt vollständig zu begreifen und zu verändern. Er war kein Denker, der sich gegen die Moderne sträubte, sondern eher einer, der in ihrem Innern nach Wegen der Analyse und Intervention suchte. Er verstand, dass der Kapitalismus trotz all seiner Ausbeutung und Korruption das bis dato fortschrittlichste Wirtschafts- 5 system war. Seine Errungenschaften sollten nicht rückgängig gemacht, sondern über die Beschränkungen der kapitalistischen Wertschöpfung hinaus beschleunigt werden.
6. Selbst Lenin schrieb 1918 in dem Text „‘Linke‘ Kindereien“:
Sozialismus ist undenkbar ohne großkapitalistische Technik, die auf den neuesten Errungenschaften der modernen Wissenschaft beruht, ohne planmäßige staatliche Organisation, die Dutzende Millionen Menschen zur strengsten Einhaltung einer einheitlichen Norm bei der Produktion und Verteilung der Produkte zwingt. Davon haben wir Marxisten immer gesprochen, und es lohnt nicht, auch nur zwei Sekunden im Gespräch mit Leuten zu verschwenden, die nicht einmal das begriffen haben (die Anarchisten und gut die Hälfte der linken Sozialrevolutionäre).
7. Wie Marx wusste, kann der Kapitalismus nicht als Vertreter der wahren Beschleunigung gelten. In ähnlicher Weise ist auch die Beschreibung der linken Politik als Antithese zu technosozialer Beschleunigung, zumindest teilweise, eine massive Falschdarstellung. Wenn die politische Linke eine Zukunft haben soll, muss es eine sein, in der sie sich ihrer unterdrückten akzelerationistischen Neigung maximal annimmt.
03 Manifest: Die Zukunft
1. Der wichtigste Unterschied innerhalb der zeitgenössischen Linken verläuft zwischen Vertretern einer Politik des folkloristischen Lokalismus, der direkten Aktionen und des grenzenlosen Horizontalismus und denen, die eine Politik entwerfen, die als Beschleunigungspolitik bezeichnet werden sollte. Eine Politik, die sich in einer Moderne der Abstraktion, Komplexität, Globalität und Technologie zu Hause fühlt. Erstere begnügen sich mit der Herstellung provisorischer Kleinsträume nicht-kapitalistischer Sozialbeziehungen und umgehen dadurch die echten Probleme, die die Konfrontation mit einem Feind, der seinem Wesen nach nicht-lokal, abstrakt und tief in der Infrastruktur unseres Alltags verankert ist, mit sich bringt. Das Scheitern ist einer solchen Politik von Beginn an eingeschrieben. Die Beschleunigungspolitik versucht im Gegenzug die Errungenschaften des Spätkapitalismus zu bewahren und zugleich weiter zu gehen, als es sein Wertesystem, seine Regierungsstrukturen und seine Massenpathologien erlauben.
2. Wir alle wollen weniger arbeiten. Es ist eine faszinierende Frage, warum die weltweit führenden Ökonomen der Nachkriegszeit davon überzeugt waren, dass ein aufklärerischer Kapitalismus unvermeidlich zur radikalen Kürzung der Arbeitsstunden führen müsse. In seinem Text Ökonomische Perspektiven für unsere Enkel von 1930 entwirft Keynes eine kapitalistische Zukunft, in der die Menschen ihre Arbeitszeit auf drei Stunden am Tag reduziert haben. Stattdessen hat sich eine fortschreitende Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Arbeit vollzogen, in der die Arbeit nach und nach in jeden Aspekt des sozialen Getriebes eingedrungen ist.
3. Der Kapitalismus hemmt die fortschrittlichen Kräfte der Technik oder leitet sie zumindest zu unnötig verengten Zwecken um. Patentkriege und Ideen-Monopolisierung sind zeitgenössische Phänomene, die auf das rückständige Technikverständnis des Kapitals und auf die Notwendigkeit, über den Wettbewerb hinauszukommen, hinweisen. Die echten Beschleunigungsgewinne des Neoliberalismus haben weder zu weniger Arbeit noch zu weniger psychischem Druck geführt. Anstelle in einer Welt aus Raumfahrt, Future Shocks und revolutionärem technologischem Potential leben wir in einer Zeit, in der sich lediglich die Unterhaltungselektronik marginal verbessert. Mit der endlosen Wiederholung derselben Grundprodukte wird die Grenznachfrage der Konsumenten auf Kosten humaner Beschleunigung erhalten.
4. Wir möchten nicht zurück zum Fordismus. Es kann keine Rückkehr zum Fordismus geben. Das „goldene Zeitalter“ des Kapitalismus basierte auf dem Produktionsmodell einer geregelten Arbeitsumgebung, in der (männlichen) Arbeitern Sicherheit und ein grundlegender Lebensstandard gewährt wurde, im Austausch gegen ein Leben aus verblödender Langeweile und sozialer Unterwerfung. Dieses System beruhte auf einer internationalen Hierarchie aus Kolonien, Großmächten und einer unterentwickelten Peripherie, einer nationalen Hierarchie des Rassismus und Sexismus und einer starren familiären Hierarchie der Unterwerfung der Frau. Trotz der Nostalgie, die viele empfinden, ist ein solches System nicht wünschenswert, und außerdem ist es praktisch unmöglich, dazu zurückzukehren.
5. Die Akzelerationisten wollen verborgene Produktivkräfte freisetzen. Für ein solches Projekt darf der materielle Plattform des Neoliberalismus nicht zerstört werden. Vielmehr muss er zu neuen gemeinschaftlichen Zwecke umfunktioniert werden. Die bestehende Infrastruktur ist keine Stufe des Kapitalismus, die zerstört werden müsste, sondern ein Sprungbrett zum Postkapitalismus.
6. Angesichts der Versklavung der Technowissenschaften durch kapitalistische Ziele (besonders seit den späten 1970ern) wissen wir sicher noch nicht, wozu ein moderner technosozialer Organismus im Stande ist. Wer von uns kann vollständig erkennen, welche unerschlossenen Möglichkeiten in der bereits entwickelten Technologie schlummern? Wir wetten, dass die wirklich gestalterischen Potentiale des größten Teils unserer Technologie und wissenschaftlichen Forschung noch unausgeschöpft sind, voll von derzeit noch überschüssigen Funktionen (und Vor-Anpassungen), die nach einer Verschiebung der kurzsichtigen kapitalistischen Sicht entscheidend werden können.
7. Wir wollen den Prozess der technologischen Evolution beschleunigen. Wofür wir aber streiten, ist keine technische Utopie. Man sollte nie glauben, dass die Technik alleine uns retten kann. Sie ist notwendig, ja, aber ohne sozialpolitisches Handeln niemals hinreichend. Die Technik und das Soziale sind untrennbar miteinander verbunden, und Veränderungen auf der einen Seite vergrößern und verstärken die Veränderungen auf der anderen. Während die Argumente der Techno-Utopisten darauf beruhen, dass Beschleunigung zur automatischen Überwindung politischer Konflikte führt, behaupten wir, dass die Technologie genau darum beschleunigt werden muss, weil sie dazu gebraucht wird, soziale Konflikte für sich zu entscheiden.
8. Wir glauben, dass jedes postkapitalistische System einer postkapitalistischen Planung bedarf. Das Vertrauen in den Gedanken, dass das Volk nach einer Revolution spontan ein neues sozioökonomisches System aufbaut, das nicht einfach eine Rückkehr zum Kapitalismus ist, ist bestenfalls naiv und schlimmstenfalls ignorant. Um voranzukommen müssen wir sowohl eine kognitive Karte des bestehenden Systems als auch ein spekulatives Bild eines zukünftigen ökonomischen Systems entwickeln.
9. Dafür muss die Linke jede vom Kapitalismus ermöglichte technologische und wissenschaftliche Errungenschaft zu ihrem Vorteil ausnutzen. Wir behaupten, dass Quantifizierung kein auszulöschendes Übel ist, sondern ein Werkzeug, das auf die bestmögliche Art eingesetzt werden muss. Ökonomische Modelle sind – einfach ausgedrückt – eine absolute Notwendigkeit, um sich eine komplexe Welt verständlich zu machen. Die Finanzkrise von 2008 offenbart die Risiken des blinden Vertrauens in mathematische Modelle, aber das ist ein Problem von unrechtmäßiger Autorität, kein Problem der Mathematik selbst. Die Werkzeuge aus der sozialen Netzwerktheorie, der akteurbasierten Modellbildung, der Großdatenforschung und der Ungleichgewichtsökonomie sind notwendige kognitive Mittler für das Verständnis komplexer Systeme wie das der modernen Ökonomie. Die akzelerationistische Linke muss ihren Analphabetismus in diesen technischen Gebieten überwinden.
10. Jede gesellschaftliche Umgestaltung schließt ökonomische und soziale Experimente ein. Das chilenische Projekt Cybersyn ist vorbildlich für diese experimentelle Haltung – es verbindet hochentwickelte kybernetische Technologie mit ausgefeilten ökonomischen Modellen und einer demokratischen Plattform, die in die technologische Infrastruktur selbst eingelassen ist. Ähnliche Experimente, die Kybernetik und lineare Programmierung verwendeten, wurden in der sowjetischen Ökonomie der 50er und 60er unternommen, mit dem Ziel, die neuartigen Probleme zu lösen, mit denen sich die erste Welle kommunistischer Ökonomie konfrontiert sah. Dass beide letztlich erfolglos geblieben sind, kann auf die politischen und technologischen Zwänge zurückgeführt werden, unter denen diese frühen Kybernetiker agieren mussten.
11. Die Linke muss eine soziotechnologische Hegemonie ausarbeiten: sowohl in der Sphäre der Ideen als auch in der Sphäre der materiellen Plattformen. Diese Plattformen bilden die Infrastruktur der globalen Gesellschaft. Sie stellen die grundlegenden Parameter des möglichen Verhaltens und Denkens dar. In diesem Sinn verkörpern sie das materielle Apriori einer Gesellschaft; sie sind die Bedingungen möglicher Handlungs-, Beziehungs- und Machtkomplexe. Die meisten globalen Plattformen sind auf kapitalistische Sozialbeziehungen zugeschnitten, aber das ist keine unvermeidliche Notwendigkeit. Die materiellen Plattformen von Produktion, Finanzwesen, Logistik und Konsum können und müssen zu postkapitalistischen Zwecken neu programmiert und umformatiert werden.
12. Wir glauben nicht, dass direkte Aktionen ausreichen, um irgendeine unserer Forderungen einzulösen. Die gewöhnlichen Strategien des Marschierens, des Plakatehochhaltens und des Einrichtens vorläufiger autonomer Zonen laufen Gefahr, zum beruhigenden Ersatz für wirkliche Erfolge zu werden. „Immerhin tun wir überhaupt was“ ist der Schlachtruf derer, denen ihr Selbstwertgefühl wichtiger ist als wirksames Handeln. Das einzige Kriterium einer guten Strategie ist aber, ob sie zu merklichem Erfolg führt oder nicht. Wir müssen damit aufhören, bestimmte Handlungstypen zu fetischisieren. Politik muss verstanden werden als Komplex dynamischer Systeme, der von Konflikt, Anpassung, Gegenanpassung und strategischem Wettrüsten zerklüftet ist. Dies hat zur Folge, dass jede individuelle Art des politischen Handelns mit der Zeit, in der sich die Gegenseite anpasst, abstumpft und wirkungslos wird. Keine gegebene Form der politischen Handlung ist historisch unantastbar. Mit der Zeit nimmt die Notwendigkeit zu, sich von vertrauten Strategien zu lösen, da die Kräfte und Einheiten, gegen die sie sich richten, lernen, sich zu verteidigen und ihrerseits anzugreifen. Die Unfähigkeit der Linken, so zu handeln, erklärt einen Teil der zeitgenössischen Misere.
13. Die uneingeschränkte Bevorzugung von Demokratie-als-Prozess muss überwunden werden. Die Fetischisierung von Offenheit, Horizontalität und Inklusion seitens der Mehrheit der heutigen „radikalen“ Linken hat die Voraussetzungen für die Wirkungslosigkeit geschaffen. Geheimhaltung, Vertikalität und Exklusion haben genauso ihren Platz in wirksamer politischer Handlung (wenn auch selbstverständlich keinen ausschließlichen).
14. Demokratie kann nicht einfach durch ihre Mittel definiert werden – durch Wahlen, öffentliche Diskussion und Generalversammlungen. Echte Demokratie muss von ihrem Ziel her definiert werden – der kollektiven SelbstErmächtigung. Es geht um ein Projekt, das die Politik mit dem Vermächtnis der Aufklärung verbindet, in dem Sinne, dass wir uns nur in dem Ausmaß selbst regieren können, wie wir das Vermögen voll ausschöpfen, uns und unsere Welt (unsere soziale, technologische, ökonomische und psychische Welt) besser zu verstehen. Wir müssen eine gemeinschaftlich kontrollierte legitime vertikale Autorität mit verteilten horizontalen Formen der Vergesellschaftung aufbauen, um der Versklavung durch einen tyrannischen totalitären Zentralismus oder einer unberechenbar entstehenden Ordnung außerhalb unserer Kontrolle zu entgehen. Das Gebot des PLANS muss mit der improvisierten Ordnung des NETZWERKS versöhnt werden.
15. Wir geben keine bestimmte Organisation als ideales Mittel an, diese Leitlinien zu verkörpern. Was jetzt nötig ist – was immer schon nötig war – ist eine Ökologie der Organisationen, ein Pluralismus aus Kräften, die fortwährend aufeinander reagieren und sich gegenseitig verstärken. Sektiererei ist genauso wie Zentralismus das Totengeläut für die Linke, und in diesem Sinn begrüßen wir weiterhin das Experimentieren mit verschiedenen Strategien (auch solchen, denen wir nicht zustimmen).
16. Mittelfristig haben wir drei konkrete Ziele. Erstens müssen wir eine intellektuelle Infrastruktur aufbauen. Ähnlich wie die Mont Pelerin Society der neoliberalen Revolution hat sie den Auftrag, neue ideologische, ökonomische und soziale Modelle sowie eine Vision für das Gemeinwohl zu schaffen, die die abgezehrten Ideale, die unsere Welt heute regieren, ersetzen und überwinden können. Es handelt sich insofern um eine Infrastruktur, als dass sie nicht nur Ideen erfordert, sondern auch Institutionen und materielle Kanäle, die diese Ideen einprägen, verkörpern und verbreiten.
17. Zweitens müssen wir eine weitreichende Medienreform durchführen. Trotz der scheinbaren Demokratisierung durch das Internet und die sozialen Medien bestimmen die traditionellen Medien nach wie vor die Auswahl und Präsentationsweise der Narrative und verfügen allein über die finanziellen Möglichkeiten, investigativen Journalismus zu betreiben. Diese Körperschaften so weit wie möglich in öffentliche Kontrolle zu bringen, ist entscheidend, um die derzeit vorherrschende Darstellung der Zustände aufzubrechen.
18. Schließlich müssen wir verschiedene Formen der Klassenmacht wiederherstellen. Eine solche Wiederherstellung muss die Vorstellung überwinden, dass ein organisch gewachsenes globales Proletariat bereits existiert. Stattdessen muss sie eine disparate Reihe proletarischer Teilidentitäten, die oft in postfordistischen Formen prekärer Arbeit verkörpert werden, untereinander verknüpfen.
19. Verschiedene Gruppen und Einzelpersonen arbeiten bereits an allen diesen Punkten, aber jeder bleibt für sich allein genommen unzureichend. Notwendig ist die Rückkopplung der drei Punkte aneinander, in der jeder die aktuelle Verknüpfung so beeinflusst, dass die andern immer wirkungsvoller werden. Ein positiver Rückkopplungsprozess des infrastrukturellen, ideologischen, sozialen und ökonomischen Wandels, der eine neue komplexe Hegemonie, eine neue postkapitalistische technosoziale Basis schaffen kann. Die Geschichte lehrt, dass immer nur eine breite Ansammlung von Strategien und Organisationen eine Veränderung des Systems bewirken konnte; diese Lektion muss gelernt werden.
20. Um diese drei Ziele zu erreichen, behaupten wir auf einer ganz praktischen Ebene, dass die akzelerationistische Linke ernsthafter über die Ressourcen- und Kapitalflüsse nachdenken muss, die der Aufbau einer schlagkräftigen neuen politischen Infrastruktur erfordert. Jenseits der Menschenmassen auf der Straße, der „Macht des Volks“, brauchen wir Finanzierung, ob durch Regierungen, Institutionen, Think Tanks, Gewerkschaften oder individuelle Förderer. Solche Kapitalströme ausfindig zu machen und umzuleiten ist unabdingbar, um den Aufbau einer Ökologie schlagkräftiger akzelerationistischer linker Organisationen zu anzugehen.
21. Wir erklären, dass nur eine prometheische Politik der größtmöglichen Beherrschung der Gesellschaft und ihrer Umwelt in der Lage ist, mit globalen Problemen fertig zu werden und die Oberhand über das Kapital zu erlangen. Diese Beherrschung muss unterschieden werden von der, die die Denker der ursprünglichen Aufklärung so geliebt haben. Das Uhrwerk-Universum eines Laplace, das mit genügend Informationen so einfach beherrscht werden kann, ist lange von der Agenda ernsthafter wissenschaftlicher Ansätze verschwunden. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns mit den müden Überbleibseln der Postmoderne gemein machen, die Beherrschung als proto-faschistisch verschreien und Autorität an sich als illegitim. Stattdessen schlagen wir vor, dass uns die Probleme, die unseren Planeten und unsere Spezies bedrängen, dazu zwingen, Herrschaft in einer neuen komplexen Gestalt aufzubereiten. Wenn wir auch nicht das genaue Resultat unserer Handlungen voraussagen können, können wir dennoch wahrscheinlichkeitstheoretisch vorhersehbare Ergebnisbereiche bestimmen. An eine derart komplexe Systemanalyse muss eine neue Form des politischen Handelns gekoppelt werden: improvisatorisch und in der Lage, einen Entwurf vermittels einer Praxis durchzusetzen, die mit den Unwägbarkeiten umgehen kann, die sie nur erst im Lauf ihres Handelns erkennen kann – in einer Politik der geosozialen Kunstfertigkeit und gekonnter Rationalität. Eine Art abduktiven Experimentierens auf der Suche nach den besten Mitteln, in einer komplexen Welt zu handeln.
22. Wir müssen das Argument, das traditionell für den Postkapitalismus reserviert war, wiederbeleben: Der Kapitalismus ist nicht nur ein ungerechtes und pervertiertes, sondern auch ein fortschrittshemmendes System. Unsere technologische Entwicklung wird, so sehr sie von ihm auch entfesselt wurde, vom Kapitalismus unterdrückt. Akzelerationismus ist der grundsätzliche Glaube, dass diese Kapazitäten freigesetzt werden können und sollten, indem wir über die Beschränkungen der kapitalistischen Gesellschaft hinausgehen. Diese Bewegung über unsere derzeitigen Schranken hinweg muss mehr beinhalten als nur den Kampf für eine rationalere globale Gesellschaft. Sie muss, so glauben wir, auch die Bergung der Träume beinhalten, die so viele von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Anbeginn der neoliberalen Ära in ihren Bann geschlagen haben, Träume vom Streben des Homo sapiens nach Ausbreitung über die Grenzen der Erde und seiner unmittelbaren körperlichen Form hinaus. Solche Visionen werden heute als Überbleibsel einer unschuldigeren Zeit angesehen. Doch beide diagnostizieren den erschütternden Mangel an Vorstellungskraft in unserer Zeit und bieten das Versprechen einer Zukunft, die sowohl das Gefühl belebt als auch den Geist kitzelt. Schließlich wird nur eine postkapitalistische Gesellschaft, ermöglicht durch eine akzelerationistische Politik, je in der Lage sein, das Versprechen der Raumfahrtprogramme des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts einzulösen – als Verschiebung über eine Welt der minimalen technischen Upgrades hinaus zu allumfassendem Wandel. Hin zu einer Zeit der kollektiven Selbstbeherrschung und der wirklich fremden Zukunft, die sie mit sich bringt und möglich macht. Hin zu einer Vollendung des aufklärerischen Projekts von Selbstkritik und Selbstbeherrschung statt seiner Auslöschung.
23. Die Entscheidung, die uns bevorsteht, ist schwerwiegend: entweder ein globalisierter Postkapitalismus oder eine allmähliche Fragmentierung hin zum Primitivismus, zur permanenten Krise und zum weltweiten ökologischen Zusammenbruch.
24. Die Zukunft muss neu konstruiert werden. Sie wurde vom neoliberalen Kapitalismus zerstört und auf das billige Versprechen größerer Ungleichheit, größeren Konflikts und größerer Unordnung reduziert. Der Zusammenbruch der Idee der Zukunft ist symptomatisch für den rückschrittlichen Zustand unserer Zeit und nicht das Zeichen skeptischer Reife, wie es uns Zyniker quer durch das politische Spektrum weismachen wollen. Der Akzelerationismus strebt nach einer moderneren Zukunft – einer anderen Moderne, die der Neoliberalismus von Natur aus nicht hervorbringen kann. Die Zukunft muss noch einmal aufgeknackt werden – und unsere Horizonte werden frei für die unbegrenzten Möglichkeiten des Außen.